Küss mich Engel
des Pferdes herunterhingen. Es brauchte nicht viel Vorstellungsvermögen, um ihn über eine russische Steppe reiten zu sehen, plündernd und raubend. Sie sah, dass eine aufgerollte Peitsche an seinem Sattelknauf hing, und stellte mit großer Erleichterung fest, dass ihre Phantasie wieder einmal mit ihr durchgegangen war. Die Peitsche auf seinem Bett war nichts weiter als eine Requisite für seinen Zirkusakt.
Als sie ihn dabei beobachtete, wie er sich von seinem Pferd herunterbeugte, um mit dem Ringansager zu sprechen, fiel ihr wieder ein, dass sie ein heiliges Gelübde abgelegt hatte, das sie unweigerlich mit diesem Mann verband, und sie wusste, dass sie der Stimme ihres Gewissens nicht länger ausweichen konnte. Mit brutaler Ehrlichkeit gestand sie sich ein, dass die Zustimmung zu dieser Heirat das Feigste war, was sie je in ihrem Leben gemacht hatte. Sie war zu unsicher, zu charakterlos, zu unselbständig gewesen, um ihrem Vater und seinen Erpressungsversuchen die kalte Schulter zu zeigen und ihren eigenen Weg einzuschlagen, selbst wenn das bedeutet hätte, ins Gefängnis zu gehen.
Würde das ihr ganzes Leben lang so weitergehen? Sich vor der Verantwortung zu drücken, den Weg des geringsten Widerstands zu nehmen? Scham stieg in ihr auf, als sie sich daran erinnerte, dass sie das Ehegelöbnis ohne die leiseste Absicht, es zu halten, ausgesprochen hatte. Auf einmal wusste sie, dass sie etwas wiedergutzumachen hatte.
Sie wusste, was zu tun war, ihr Gewissen versuchte schon seit Stunden, es ihr klarzumachen, war jedoch auf taube Ohren gestoßen. Jetzt konnte sie die Tatsache akzeptieren, dass sie sich nicht mehr würde ins Gesicht sehen können, wenn sie nicht zumindest den Versuch machte, ihr Ehegelöbnis zu halten. Bloß weil ihre Situation so schwierig war, hieß das noch lange nicht, dass es nicht notwendig war. Sie hatte das deutliche Gefühl, wenn sie jetzt wieder davonrannte, dann gab es keine Hoffnung mehr für sie.
Und dennoch, ihr Verstand sträubte sich. Sie wusste, was sie tun musste, doch ihr Verstand sträubte sich dagegen. Wie konnte sie ein Gelöbnis ernst nehmen, das sie einem Fremden gegeben hatte?
Du hast es nicht einem Fremden gegeben sagte ihre innere Stimme. Du hast es vor Gott abgelegt.
In diesem Moment wurde sie von Alex erspäht. Ihre Entscheidung war noch zu neu für sie, um jetzt schon mit ihm darüber reden zu können, aber es blieb ihr keine Wahl. Sie nahm einen nervösen Zug an ihrer Zigarette und behielt sein ein wenig ungestüm wirkendes Pferd misstrauisch im Auge, als er nun auf sie zugeritten kam. Das Tier trug ganz besonders schönes Zaumzeug sowie eine kostbar bestickte, scharlachrote Satteldecke und Zügel, an denen feine Goldmünzen und tiefrote Steine hingen, die aussahen wie richtige Rubine.
Er blickte irritiert zu ihr herunter. »Wo warst du?«
»Hab mich ein bisschen umgesehen.«
»Es gibt jede Menge undurchsichtiger Typen im Zirkus. Bevor du dich hier nicht richtig auskennst, bleibst du besser in meiner Nähe, wo ich ein Auge auf dich hab.«
Da sie sich soeben vorgenommen hatte, ihr Bestes zu tun, um aus ihrer Ehe etwas zu machen, schluckte sie ihren Ärger über seine befehlshaberische Art herunter und sagte statt dessen, so freundlich sie konnte: »Na gut.«
Ihre Handflächen wurden allmählich feucht, weil ihr das Pferd so nahe war, und sie drückte sich noch enger an den Wohnwagen. »Ist das deins?«
»Yep. Perry Lipscomb versorgt ihn für mich. Er hat ‘ne Pferdedressurnummer und nimmt Mischa immer mit seinen Tieren im Pferdewagen mit.«
»Ach so.«
»Geh rein und sieh dir die Show an.«
Er schnalzte mit den Zügeln, und sie trat rasch zurück. Dann stieß sie ein verzweifeltes Zischen aus, als das, was noch von ihrer Zigarette übrig war, in Flammen aufging.
»Willst du wohl aufhören!« kreischte sie und wischte hektisch über ihre Sachen und stampfte die brennenden Überreste, die zu Boden fielen, aus.
Er warf ihr einen Blick über die Schulter zu. Ein Mundwinkel zuckte. »Die Dinger werden dich noch umbringen, wenn du nicht aufpaßt.« Mit einem leisen Lachen kehrte er zur Schlange zurück und nahm seinen Platz zwischen den anderen Artisten ein.
Sie wusste nicht, was sie mehr beunruhigte, die Tatsache, dass er schon wieder eine ihrer Zigaretten mit seinen blöden Tricks ruiniert hatte, oder die Erkenntnis, dass sie bei jeder ihrer Auseinandersetzungen bis jetzt den Kürzeren gezogen hatte.
Sie kochte immer noch, als sie vorsichtig um die Tiere
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