Küss mich Engel
zwischen ihnen vorging, etwas, von dem Daisy keine Ahnung hatte. Es sah fast so aus, als würde Sheba ihn herausfordern, aber zu was? So plötzlich, dass sie die Bewegung kaum wahrnahm, holte Alex mit dem Arm aus und bewegte fast unmerklich das Handgelenk.
Knall! Die Peitsche explodierte nur wenige Zentimeter von Shebas Gesicht entfernt, und ein Stück Röhrchen flog ab.
Sheba rührte sich nicht. Sie stand so gelassen da wie ein Gast auf einer Gartenparty, wahrend Alex die Peitsche wieder und wieder knallen ließ und dabei jedesmal ein weiteres Stück Röhrchen abhackte. Zentimeter um Zentimeter verkürzte er das Röhrchen, bis nur mehr ein Stummel zwischen Shebas Lippen steckte.
Sie nahm es aus dem Mund, bückte sich und hob ein frisches Röhrchen auf, das sie Daisy hinstreckte. »Jetzt du.«
Daisy wusste sehr wohl, wann sie herausgefordert wurde, aber diese Leute waren dazu erzogen worden, die Gefahr zu suchen. Wieviel Mut auch immer ihr in die Wiege gelegt worden sein mochte, sie hatte alles aufgebraucht, als sie sich Tater entgegenstellte. »Vielleicht ein andermal.«
Alex seufzte und warf die Peitsche zu Boden. »Sheba, das funktioniert einfach nicht. Ich mach die Nummer weiter alleine.«
»Ist es wirklich so weit gekommen, Alex? Fünf Generationen Zirkusblut, und du gibst den Markovnamen an eine Frau weiter, die nicht genug Mumm hat, um mit dir in den Ring zu treten.«
Ihre grünen Augen verdunkelten sich vor Verachtung, als sie sich auf Daisy richteten. »Keiner hat dich gebeten, auf einem Seil zu balancieren oder ohne Sattel zu reiten. Alles, was du tun musst, ist hier zu stehen. Aber du schaffst nicht mal das, stimmt ‚s?«
»Ich - es tut mir leid, aber ich kann so was einfach nicht.«
»Was kannst du denn überhaupt?«
Alex trat vor. »Das ist nicht fair. Daisy hat die Menagerie übernommen, obwohl sie nicht mehr dort arbeiten müsste, und die Tiere waren nie in besserer Verfassung.«
»Ja, verteidige sie nur.« Shebas Blick war ebenso scharf wie die Peitsche, und Daisy war ihr Opfer. »Weißt du überhaupt was über die Markovs?«
»Alex redet nicht viel über seine Kindheit.« Über sein derzeitiges Leben ebensowenig. Immer wenn sie ihn nach seinem Leben außerhalb des Zirkus fragte, wechselte er das Thema. Sie wusste inzwischen, dass er aufs College gegangen und dass sein goldener Anhänger ein Familienerbstück war, aber nicht viel mehr.
»Lass es, Sheba«, warnte er.
Sheba schritt an ihm vorbei, den Blick unverwandt auf Daisy gerichtet. »Die Markovs sind eine der berühmtesten Zirkusfamilien in der Geschichte. Alex‘ Mutter war die beste Kunstreiterin ihrer Zeit. Alex wäre vielleicht ein ebenso guter Kunstreiter geworden, wenn er nicht so schnell und so groß gewachsen wäre.«
»Daisy interessiert das nicht«, sagte er.
»Doch. Bitte erzähl weiter, Sheba.«
»Die Familie seiner Mutter reicht fünf Generationen weit nach Russland zurück, wo die Markovs noch vor den Zaren auftraten. Das Interessante an den Markovs ist, dass sich der Großteil ihrer Geschichte auf ihre Frauen zurückführen lässt. Egal, wen sie heirateten, sie haben den Namen Markov behalten und an ihre Kinder weitergegeben. Aber die Markov- Männer waren ebenfalls großartige Zirkusartisten, Meister der Peitsche und mit die besten Kunstreiter, die der Zirkus je hervorgebracht hat.«
Alex begann die Röhrchen in eine alte Leinentasche zu stopfen. »Komm, Daisy. Ich hab genug für heute.«
Shebas Gesichtsausdruck wurde bitter. »Die Markov- Männer haben die Tradition immer aufrechterhalten und ihre Frauen sorgfältig ausgewählt. Bis Alex zumindest.« Sie hielt inne. Ihre Augen funkelten eiskalt vor Verachtung. »Du bist es nicht wert, auch nur in seinem Schatten zu stehen, Daisy, geschweige denn den Namen Markov zu tragen.«
Damit wandte sie sich ab und schritt von dannen, die Haltung so würdevoll, dass ihre heruntergekommene Umgebung beinahe königlich wirkte.
Daisy war übel. »Sie hat recht, Alex. Ich bin für all das einfach nicht geeignet.«
»Unsinn.« Er rollte die Peitschen zusammen und hängte sie sich über die Schulter. »Für Sheba ist Zirkustradition so was wie eine Ersatzreligion. Hör einfach nicht auf sie.«
Daisy starrte den Beutel mit Papierröhrchen an. Wie betäubt bückte sie sich und nahm eins heraus.
»Was machst du da?«
»Ich versuch, eine Markov zu sein.«
»Um Himmels willen, leg das wieder weg. Ich hab dir gesagt, du sollst nicht auf sie hören. Sie sieht die Geschichte der
Weitere Kostenlose Bücher