Küss mich, wenn Du kannst
In der Mitte des muskatfarbenen Tischtuchs stand eine sonnengelbe Keramikvase voller Zinnien, zwischen Saftkrügen, einer großen Pfanne mit Armen Rittern, einem Korb mit selbst gebackenen Muffins und der Spezialität der Frühstückspension - knusprig gebackenen Hafermehlfladen mit braunem Zucker, Zimt und Äpfeln.
»Wo ist Heath?«, fragte Kevin. »Schon gut, ich kann‘s mir denken. Am Telefon.«
»Sicher wird er bald kommen«, sagte Annabelle. »Er ist ziemlich spät aufgestanden. Wann er gestern eingeschlafen ist, weiß ich nicht. Jedenfalls war er noch wach, als ich ins Bett ging.« Eine fromme Lüge, sagte sie sich, denn die Wahrheit würde einigen Leuten das Frühstück verderben.
Janine, die gerade ihren Teller belud, warf einen missmutigen Blick auf das allgemeine Geturtel. »Sag mir, dass ich nicht die Einzige bin, die heute Morgen an sexuellem Frust leidet.«
»Eigentlich hätte Krystal etwas mehr Rücksicht auf uns beide nehmen müssen«, antwortete Annabelle ausweichend.
»Was ist mit dir und Heath falsch gelaufen?«
Seufzend verdrehte Annabelle die Augen. »Warum müsst ihr immer alles haargenau wissen?«, klagte sie, dann setzten sie sich in zwei Korbsessel, nicht weit von der Familie Tucker entfernt. Während Annabelle in ihren Hafermehlfladen biss, tauchte Heath in Khakishorts und einem Nike-T-Shirt auf.
Was sie ihm erzählt hatte, stimmte wenigstens teilweise. Letzte Nacht war Robs Geist zu Grabe getragen worden. Bedauerlicherweise nahm jetzt ein anderer Geist seinen Platz ein.
Dreist wie eh und je hatte Pippi Bananenstückchen vom Tablett am Babystühlchen ihres kleinen Bruders stibitzt. Nun stürmte sie quer durch den Pavillon und stürzte sich auf Heaths Knie. »Pwinz!«
»He, Kleines.« Ungeschickt tätschelte er ihren Kopf, und eine »Häschen Daphne«-Spange rutschte ans Ende eines blonden Löckchens.
»Wie nennt sie dich?«, fragte Phoebe mit gefurchter Stirn.
Annabelle setzte ihre fröhlichste Miene auf. »Prinz. Ist das nicht süß?«
Als Phoebe eine Braue hochzog, küsste Dan ihren Mundwinkel, wahrscheinlich, weil er Heath mochte und seine Frau von ihm ablenken wollte.
Eisern umklammerte die Dreijährige Heaths Beine. »Pwinz soll Saft holen. Hier ist‘s muffig.« Um ihrer Behauptung Nachdruck zu verleihen, rümpfte sie die Nase.
»Da drüben steht der Saft.« Molly zeigte in die ungefähre Richtung des Büffets, ergriff ein Babylätzchen und wischte ein zerquetschtes Bananenstück vom Kalksteinboden.
Anbetend schaute Pippi zu Heath auf. »Hast du ein Telefon ?«
Ruckartig hob Kevin den Kopf. »Lass sie bloß nicht in die Nähe deines Handys! Da ist sie ganz scharf drauf.«
Ehe Heath antworten konnte, fragte Walter: »Wohin soll unsere Wanderung gehen?«
»Der Weg führt um den See herum«, erklärte Kevin und nahm Molly das schmutzige Lätzchen ab, »Am besten nehmen wir die Strecke von hier bis zur Stadt. Etwa sechs Meilen - da gibt‘s hübsche Aussichtspunkte. Am Ziel werden wir von Troy und Amy erwartet. Die beiden haben uns angeboten, sie würden uns zurückfahren,«
»Inzwischen passen sie auf die Kinder auf«, fügte Molly hinzu. Troy und Amy waren das junge Paar, das den Campingplatz verwaltete.
»Saft, bitte!« Pippis Fäuste trommelten auf Heaths nackte Beine.
»Wird sofort serviert.« Heath ging zum Büffet, füllte ein Glas bis zum Rand und drückte es in ihre Hand.
Als sie einen Schluck nahm, verschüttete sie nur ein paar Tropfen. Dann gab sie ihm das Glas zurück und grinste. »Ich kann was!«
Diesmal verzogen sich seine Lippen in echter Belustigung. »So, tatsächlich?«
»Schau mal.« Pippi warf sich auf den Sisalteppich und schlug einen Purzelbaum.
»Cool«, meinte Heath und reckte einen Daumen hoch.
»Daddy sagt auch, ich bin cool.«
»Komm her, Schätzchen!«, rief Kevin und lächelte. »Lass unseren Prinzen in Ruhe, bis er gefrühstückt hat.«
»Gute Idee«, wisperte Phoebe. »Jeden Moment könnte dieser Werwolf-Horror abgehen.«
Heath nippte an Pippis Saftglas. »Wann wollt ihr loswandern?«
»So bald wie möglich«, erwiderte Kevin.
Heath stellte das Glas ab, fischte einen Armen Ritter aus der Pfanne und verkündete etwas zu beiläufig: »Eigentlich wollte ich gleich nach dem Frühstück abreisen. Aber diese Wanderung ist einfach zu verlockend, die will ich nicht versäumen.«
Beklommen biss Annabelle in ihren Hafermehlfladen. An diesem Morgen hatte sie ihre große Szene schon kaum verkraftet. Würde sie es schaffen, auf einer
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