Küss mich, wenn Du kannst
Feindin gewesen. Hätte er nicht so ein verqueres Bild von sich selbst gehabt, wäre ihm vielleicht klar geworden, was seinem Seelenleben fehlte. So stolz war er auf seine Arbeitsmoral und Cleverness gewesen, seine Logik und seine Risikobereitschaft. Aber er hatte nicht verstanden, dass ihn seine verkorkste Kindheit in einen emotionalen Feigling verwandelt hatte. Deshalb führte er nur ein halbes Leben. Mit Annabelle an der Seite könnte er vielleicht endlich relaxen und sich zu dem Mann entwickeln, der er sein wollte. Bisher hatte er nicht den nötigen Mut aufgebracht, um diesen Zustand zu erreichen.
Erst einmal musste er sie aufspüren. Sie meldete sich weder an ihrem Telefon zu Hause noch am Handy. Und wie er bald feststellte, wollten ihre Freundinnen nicht mit ihm reden. Nach einer hastigen Dusche erreichte er Kate. In scharfem Ton machte sie ihm die Hölle heiß, dann teilte sie ihm mit, Annabelle habe am Sonntagmorgen angerufen und versichert, sie sei okay, aber nicht verraten, wo sie sich aufhielt.
»Dafür mache ich Sie verantwortlich«, schimpfte Kate. »Sie ist sehr empfindsam. Das hätten Sie merken müssen.«
»Ja, Ma‘am. Sobald ich sie finde, mache ich’s wieder gut, das verspreche ich.«
Damit beschwichtigte er sie einigermaßen, und deshalb warnte sie ihn vor Annabelles Brüdern, die es auf ihn abgesehen hätten. »Seien Sie bloß auf der Hut!«
Wie er diese Jungs liebte...
Wenig später fuhr er nach Wicker Park. Aus seinem Büro landeten zahllose, beschwörende Nachrichten auf seinem Handy, die er ignorierte. Zum ersten Mal in seiner Karriere hatte er keinen einzigen seiner Klienten angerufen, um die Footballspiele vom Vortag zu erörtern. Das beabsichtigte er auch jetzt nicht - zumindest nicht, bevor er Annabelle aufgestöbert hatte.
Vom See blies der Wind heran, und der bewölkte Oktobermorgen war ziemlich kalt. Heath parkte in der Gasse hinter Annabelles Haus und sah den neuen silbernen Audi TT Roadster, den er für ihren Geburtstag bestellt hatte. Aber ihr Crown Vic war verschwunden. Natürlich entdeckte Mr. Bronicki ihn und kam herüber, um nach seinen Wünschen zu fragen, er konnte jedoch nur berichten, Annabelle sei in der Samstagnacht wie eine Verrückte davongerast. Dann wollte er wissen, was der Audi zu bedeuten habe. Sobald er erfuhr, dies sei ein Geburtstagsgeschenk, ermahnte er Heath, keine »unschickliche Dankbarkeit« für das »extravagante« Vehikel zu erwarten.
»Nur weil ihre Granny nicht mehr da ist, heißt das keineswegs, die Leute würden sie nicht beschützen.«
»Erzählen Sie mir davon«, murmelte Heath.
»Was haben Sie gesagt?«
»Dass ich Annabelle liebe«, erwiderte Heath. Weil ihm der Klang dieser Worte gefiel, sprach er sie noch einmal aus. »Ich liebe Annabelle, und ich möchte sie heiraten.« Wenn er sie finden würde. Und wenn sie ihn haben wollte.
Mr. Bronicki runzelte die Stirn. »Passen Sie bloß auf, dass sie ihre Honorare nicht erhöht! Hier kriegen die meisten Nachbarn nur ganz kleine Renten.«
»Okay, ich werde mein Bestes tun.«
Nachdem Mr. Bronicki den Audi zur Sicherheit in seine Garage gebracht hatte, ging Heath um das Haus herum und klopfte an die versperrte Vordertür. Nichts rührte sich. Seufzend holte er sein Handy hervor und beschloss, mit Gwen zu reden.
Diesmal meldete sich ihr Mann. »Nein, Annabelle hat die Nacht nicht bei uns verbracht«, erklärte Ian. »Nehmen Sie sich bloß in Acht, Mann! Gestern hat sie mit allen Buchclubmitgliedern telefoniert, die Frauen sind total sauer. Ein guter Tipp, Kumpel. Nur wenige Mädchen möchten einen Kerl heiraten, der sie nicht liebt - ganz egal, wie viele Haare er hat.«
»Aber ich liebe sie!«
»Sagen Sie‘s ihr, nicht mir.«
»Das versuche ich doch, verdammt noch mal. Und glauben Sie, es tröstet mich ungemein, dass sich die ganze Stadt um mein Privatleben kümmert.«
»Daran sind Sie selber schuld, das ist der Preis für Ihre Dummheit.«
Heath legte auf und versuchte nachzudenken. Wenn er nicht irgendwen dazu brachte, seine Fragen zu beantworten, war er aufgeschmissen. Während er vor Annabelles Veranda stand, checkte er seine Nachrichten auf dem Handy. Keine von ihr. Warum zum Teufel ließen ihn alle Leute im Stich?
Er strich über sein Kinn und merkte, dass er schon zwei Tage hintereinander vergessen hatte, sich zu rasieren. So, wie er gekleidet war, musste er froh sein, wenn er nicht wegen Stadtstreicherei verhaftet wurde. An diesem Morgen hatte er einfach angezogen, was ihm in
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