Küss mich, wenn Du kannst
an.«
»Also ist es was Schlimmes.«
»Was Grauenhaftes«, erwiderte er trocken. »Hören Sie, Annabelle, ich wuchs in einem Wohnwagen auf. Nicht in einem schönen, gepflegten Trailer Park - das wäre ein Paradies gewesen. Da, wo ich lebte, standen nur miese Rostlauben herum. Nebenan hausten Junkies, Diebe, lauter Leute, die irgendwo in unserem Staatssystem verloren gegangen sind. Vor meinem Schlafzimmerfenster lag ein Schrottplatz. Als ich vier Jahre alt war, starb meine Mutter bei einem Autounfall. Mein Alter war ein ganz netter Kerl, wenn er nüchtern war. Leider kam das nur selten vor. Alles, was ich besitze, habe ich mir selber verdient. Darauf bin ich stolz. Woher ich stamme, verheimliche ich nicht. Dieses verbogene Metallschild an der Wand meines Büros mit der Aufschrift ›Beau Vista‹ hing früher an einem Pfosten in der Nähe unseres Wohnwagens. Das halte ich in Ehren, um mich stets daran zu erinnern, wie weit ich gekommen bin. Alles andere, was damit zu tun hat, ist meine Sache. So wie es Ihre ist, meine Wünsche zu erfüllen. Verstanden?«
»Heiliger Himmel, ich habe doch nur nach Ihrem zweiten Vornamen gefragt.«
»Tun Sie‘s nie wieder.«
»Desdemona?«
Aber er weigerte sich, sie zu amüsieren. Schließlich starrte sie seinen Rücken an, als er zur Küche ging, um der Mamma seine Aufwartung zu machen.
»Geht jeden Abend in die Clubs«, befahl Portia am nächsten Morgen ihrem Personal. Ramon, der Barkeeper des Sienna‘s, hatte sie um Mitternacht geweckt, um ihr die alarmierende Neuigkeit über den Erfolg der letzten Kandidatin zu erzählen, mit der Annabelle Granger ins Lokal gekommen war. Danach hatte sie keinen Schlaf mehr gefunden. Irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, ein weiterer wichtiger Klient könnte ihr durch die Lappen gehen. »Verteilt unsere Visitenkarten«, trug sie Kiki, Briana und Diana auf, die sie eingestellt hatte, um SuSu zu ersetzen. »Und notiert euch Telefonnummern. Die übliche Routine.«
»Das haben wir schon getan«, wandte Briana ein.
»Anscheinend nicht sorgfältig genug. Sonst würde Heath Champion mit einer unserer Kandidatinnen ausgehen und nicht mit Miss Grangers Mädchen. Was ist mit Hendricks und Mecall? Zwei Wochen lang haben wir ihnen keine einzige neue Frau präsentiert. Was ist mit unseren übrigen Klienten? Kiki, du wirst in den nächsten Tagen die Modelagenturen abgrasen. Um die Wohltätigkeitslunches und die Boutiquen in der Oak Street kümmere ich mich selber. Diana und Briana, ihr nehmt die Friseursalons und die großen Warenhäuser unter die Lupe. Und jeden Abend die Clubs - ihr alle. Nächste Woche werden wir eine ganze Schar neuer Kandidatinnen durchsieben.«
»Und was soll uns das bei Heath nützen?«, murmelte Briana. »Ihm gefällt doch keine.«
Sie begreifen einfach nicht, dachte Portia. In ihr Büro zurückgekehrt, blätterte sie im Terminkalender. Niemals würden sie verstehen, wie hart man arbeiten musste, um an der Spitze zu bleiben. Sie starrte die Eintragung für den Freitag an. Bei einem knappen Telefongespräch hatte Bodie Gray das Date am Wochenende arrangiert. Seither tat sie ihr Bestes, um nicht daran zu denken. Allein schon die Möglichkeit, jemand könnte sie in seiner Gesellschaft sehen, beschwor Albträume herauf. Wenigstens schien er Heath ihre Schnüffelei zu verschweigen.
Über das Bürogebäude flog ein Hubschrauber hinweg. Sie presste die Finger an ihre Schläfen. Sollte sie sich einen Wellnesstag gönnen? Irgendwas musste sie unternehmen, um ihre Stimmung aufzuhellen, damit sie sich wieder wie die alte Portia fühlte. Aber als sie ihren Computer einschaltete, wisperte eine boshafte innere Stimme, so viele Massagen, Ayurveda-Masken oder Hot-Stone-Pediküren gäbe es gar nicht, die ihre innere Abwehr gegen den nervenaufreibenden Job bezwingen könnten.
Annabelle wollte sich nicht auf Rachels Date mit Heath verlassen. Deshalb hing sie während der letzten Woche in den beiden renommiertesten Chicagoer Universitäten herum. In der University of Chicago im Hyde Park schlenderte sie durch die Flure der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät, oder sie saß auf den Stufen der Harris School of Public Policy Studies. Außerdem fuhr sie nach Lincoln Park, wo sie die Musikstudentinnen in der De Paul Concert Hall beobachtete. An beiden Universitäten hielt sie Ausschau nach attraktiven Studentinnen und Dozentinnen. Sobald sie geeignete Frauen entdeckte, trat sie direkt an sie heran, stellte sich vor und erklärte, wonach sie
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