Küss mich, wenn Du kannst
ersten Schluck Kaffee genoss, öffnete sich die Toilettentür im Hintergrund, und eine wohlbekannte Gestalt erschien. Schweren Herzens schaute Annabelle ihr entgegen. Sogar ohne die hochhackigen Pantoletten aus geflochtenem Leder wäre die Frau überdurchschnittlich groß gewesen. Breitschultrig, mit vollschlanker Figur, trug sie eine blütenweiße Hose und eine kurzärmelige korallenrote Bluse, die zu ihrem schulterlangen hellbraunen Haar passte. Subtile Lidschatten betonten die vertrauten dunklen Augen.
In diesem kleinen Café konnte sich Annabelle unmöglich verstecken, und Rosemary Kimble entdeckte sie sofort. Sie umklammerte ihre Strohtasche etwas fester. An den großen, breiten Händen glänzten lange, toffeefarbene Fingernägel, drei goldene Armbänder umgaben ein Handgelenk. Fast sechs Monate waren verstrichen, seit Annabelle sie zuletzt gesehen hatte. Rosemarys Gesicht war schmaler geworden, die Hüften runder. Während sie sich dem Tisch näherte, stieg in Annabelle eine viel zu oft empfundene Mischung aus widersprüchlichen Gefühlen auf: Zorn und Enttäuschung, Mitleid und Abneigung - eine schmerzliche Zärtlichkeit.
Rosemary nahm ihre Tasche von einer Hand in die andere und begann mit ihrer leisen, melodischen Stimme zu sprechen. »Gerade habe ich gefrühstückt, aber... würde dich meine Gesellschaft stören?«
Ja , wollte Annabelle erwidern. Aber danach würden sie Gewissensbisse peinigen, und so zeigte sie vage in die Richtung des Stuhls auf der anderen Tischseite. Rosemary setzte sich, hielt ihre Tasche auf dem Schoß fest und bestellte geeisten Chai, einen würzigen Milchtee. Dann spielte sie mit einem Armreif. »Wie ich der Flüsterpropaganda entnehme, hast du einen grandiosen Klienten an Land gezogen.«
»Ah, die Flüsterpropaganda namens Molly.«
Rosemary lächelte wehmütig. »Da du weder anrufst noch schreibst, ist Molly meine einzige Informationsquelle. So eine gute Freundin...«
Was ich nicht bin, dachte Annabelle und konzentrierte sich auf ihren Kaffee.
Nach einer Weile brach Rosemary das drückende Schweigen. »Wie geht‘s Hurricane Kate heutzutage?«
»Wie immer. Dauernd mischt sich Mom in alles ein. Neuerdings will sie eine Buchhalterin aus mir machen.«
»Sie sorgt sich nun mal um dich.«
Etwas zu vehement stellte Annabelle ihre Tasse ab, und der Kaffee schwappte über den Rand. »Keine Ahnung, warum.«
»Gib mir nicht an deinen Schwierigkeiten mit Kate die Schuld. Sie hat dich schon immer zum Wahnsinn getrieben.«
»Ja, nun - unsere Probleme haben die Situation nicht verbessert.«
»Nein, gewiss nicht«, bestätigte Rosemary.
Erst eine Woche nach dem Zusammenbruch ihrer Welt hatte Annabelle ihre Mutter angerufen, in der Hoffnung, inzwischen könnte sie die Neuigkeit erwähnen, ohne Tränen zu vergießen. »Rob und ich haben unsere Verlobung gelöst, Mom.«
Wie gut sie sich an Kates Kreischen erinnerte. »Wovon redest du?«
»Wir werden nicht heiraten.«
»Aber die Hochzeit soll schon in zwei Monaten stattfinden. Und wir lieben Rob. Alle lieben ihn. Immerhin ist er der einzige Mann in deinem Leben, der einen Kopf auf den Schultern trägt. Und ihr ergänzt euch einfach perfekt.«
»Viel zu perfekt, mach dich auf einen köstlichen Witz gefasst.« Annabelles Stimme drohte zu brechen. »Wie sich herausgestellt hat, ist Rob eine Frau in einem Männerkörper gefangen.«
»Was hast du denn getrunken?«
Annabelle berichtete, was Rob ihr eine Woche zuvor gestanden hatte. Seit er denken konnte, fühlte er sich in seinem Körper fehl am Platz. Ein Jahr vor der ersten Begegnung mit Annabelle hatte er einen Nervenzusammenbruch erlitten und nie gewagt, das zu erwähnen. Er hatte geglaubt, die Liebe zu ihr würde ihn heilen, und schließlich erkannt, dass er unmöglich als Mann weiterleben konnte.
Kate fing zu schluchzen an, und Annabelle weinte mit ihr.
So dumm kam sie sich vor, weil sie die Wahrheit nicht einmal geahnt hatte. Rob war ein guter Liebhaber, und der Sex war stets okay gewesen. Außerdem sah er attraktiv aus. Oft genug bewies er seinen Humor. Trotz seiner erstaunlichen Feinfühligkeit hatte sie ihn nie für feminin gehalten. Kein einziges Mal ertappte sie ihn dabei, wie er ihre Kleider anprobierte oder ihre Kosmetika benutzte. Sie glaubte, er wäre die Liebe ihres Lebens. Bis zu jenem schrecklichen Abend, als er ihr unter Tränen gestanden hatte, er könne nicht länger jemanden spielen, der er nicht sei.
Wenn sie jetzt zurückblickte, hatte es gewisse Anzeichen
Weitere Kostenlose Bücher