Küss mich wie damals
als sie noch jünger war, kaum Zeit mit ihr verbracht haben.“ Das hätte Frances nicht sagen dürfen. Sie wollte sich jedoch mit Marcus streiten. Sie musste ihrem Ärger Luft machen. Sie war wütend auf ihn, weil er ihr das Gefühl gab, so unbedeutend zu sein, dass er sie ganz nach Belieben küssen konnte. Und sie war ärgerlich auf sich, weil sie das zugelassen hatte. „Kinder brauchen beide Elternteile. Soweit ich sehe, waren Lady Lavinia und ihr Bruder sich oft selbst überlassen.“
„Hat sie Ihnen das erzählt?“
„Nein. Das sind Schlussfolgerungen, die ich gezogen habe.“
„Hat Ihr außerordentliches Talent in dieser Hinsicht auch dazu geführt, dass Sie den Grund dafür kennen, warum meine Kinder sich selbst überlassen waren?“
„Nein, Euer Gnaden“, antwortete Frances gelassen. „Falls es jedoch einen Grund dafür gibt, dann haben Sie ihn bestimmt Ihrer Tochter genannt.“
„Oh! Jetzt maßen Sie sich an, mir zu sagen, wie ich mit ihr umgehen soll. Ich nehme an, Sie sind, was Kindererziehung angeht, eine Expertin!“
„Das ging unter die Gürtellinie und ist Ihrer nicht würdig!“
Marcus war über sich selbst erschrocken, doch der Stolz gestattete ihm nicht, das zuzugeben. „Müssen wir uns zanken?“
„Wenn das die einzige Möglichkeit ist, Ihnen klarzumachen …“
„Was?“
„Kinder brauchen Zuwendung. Wenn man ihnen die Dinge richtig erklärt, sodass sie sie begreifen, dann benehmen sie sich auch dementsprechend.“
„Bin ich etwa unfreundlich zu meiner Tochter? Bin ich zu hart, nur weil ich nicht will, dass sie ein wildes Tier ins Haus bringt?“
„Nein, natürlich nicht, aber …“
„Dann schlage ich vor, Madam, dass Sie die Erziehung meiner Tochter mir überlassen.“ Marcus wandte sich ab, nahm vom Butler seinen Hut entgegen und setzte ihn auf. „Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag, Madam.“
Sie sah ihm einen Moment lang hinterher, drehte sich dann um und begab sich ins Speisezimmer. Der Appetit war ihr jedoch vergangen. Oh, es war eine Frechheit von Marcus, sie so hochnäsig zu behandeln und ihr Vorschriften machen zu wollen, als sei sie einer seiner Dienstboten. Vielleicht betrachtete er sie wirklich als jemanden, der sich seinen Wünschen zu fügen hatte. Nein, das konnte nicht sein, denn er schien ihr, wenn man den Kuss in Betracht zog, eine andere Rolle zugedacht zu haben. Aber er würde, falls er nach dieser Auseinandersetzung noch einmal zu ihr kam, bald begreifen, dass er sich irrte. Möglicherweise gestattete er seiner Tochter nicht mehr, den Unterricht fortzusetzen. In diesem Fall würde Frances sie sehr vermissen. Und Lady Lavinia würde die Leidtragende sein.
Der Duke of Loscoe erlaubte seiner Tochter weiterhin, Frances aufzusuchen, blieb jedoch bei den Sitzungen dabei und schaute zu. Er äußerte nicht viel und saß nachdenklich an der anderen Seite des Ateliers. Frances fühlte sich zu dem Vorschlag ermutigt, er möge seine Tochter und sie bei einer zum Kennenlernen der Architektur Londons vorgesehenen Rundfahrt begleiten. Er willigte ohne jeden Einwand ein. Dass er dabei sein wollte, konnte natürlich bedeuten, dass er befürchtete, Frances würde Lady Lavinia wieder in deren aufsässigem Verhalten unterstützen, oder er vermutete, seine Tochter könne ihr mehr private Dinge anvertrauen, als sich gehörte. Vielleicht hatte er sich jedoch auch Frances’ Kritik zu Herzen genommen und bemühte sich, sie zu berücksichtigen.
Wie dem auch war, Lady Lavinia blühte auf. Sie benahm sich viel manierlicher, wenn sie fremden Leuten vorgestellt wurde, und plauderte auch sehr viel angeregter mit Frances. Dem Vater gegenüber verhielt sie sich zwar noch immer etwas zurückhaltend, doch ihr früheres mürrisches Wesen schien langsam zu schwinden. Marcus konnte nicht umhin, das zu bemerken, und erkannte bald, dass diese Veränderungen durch Lady Frances herbeigeführt worden waren. Sie behandelte Lavinia wie eine Erwachsene und war nie herablassend zu ihr, sodass beide eine freundschaftliche Beziehung zueinander gewonnen zu haben schienen.
Bei dem Gedanken, Frances hätte die Mutter seiner Kinder sein können, wäre sie einst seine Gattin geworden, krampfte sich ihm das Herz zusammen. Dann hätte Lavinia von Geburt an diese wundervolle Zuneigung erfahren, die er zwischen den beiden Menschen beobachtete, die er am meisten auf der Welt liebte. Frances hätte seine Kinder dazu erzogen, den eigenen Wert zu erkennen, sodass sie nie das Bedürfnis gehabt
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