Küss mich wie damals
nicht darauf, an wen.“
„Erstens ist ein Waisenhaus kein Ort, wo du dich aufhalten solltest, Lavinia“, erwiderte Marcus erbost, „und zweitens kannst du dort niemanden kennen. Geh in dein Zimmer! Ich werde entscheiden, was ich mit dir mache, nachdem ich mit Lady Frances gesprochen habe.“
Lavinia verabschiedete sich von Ihrer Ladyschaft und verließ schweigend den Raum.
„Ich habe mich in Ihnen getäuscht, Madam“, wandte der Duke sich erregt an Lady Frances. „Ich dachte, Sie wären meiner Tochter ein Vorbild in gutem Benehmen, aber nun stelle ich fest, dass ich Ihnen viel zu lange freie Hand gelassen habe. Ich bereue meinen Entschluss, Lavinia in Ihre Obhut gegeben zu haben.“
„Und worin bin ich Ihrer Ansicht nach ein schlechtes Vorbild? Im Waisenhaus hat Lady Lavinia gesehen, dass es Menschen gibt, denen es viel schlechter ergeht als ihr und die ihres Mitleids bedürfen. Ich bin überzeugt, das hat ihr nicht geschadet. Aber es tut mir wirklich leid, dass wir so spät zurückgekommen sind. Der Zwischenfall mit dem Jungen …“
„War es dieser?“, fragte Marcus und hielt Lady Frances den aufgeschlagenen Skizzenblock seiner Tochter hin.
Sie sah die gekonnte Zeichnung eines etwa dreijährigen Knaben mit zerzaustem Haar. „Nein“, antwortete sie. „Es handelte sich um ein älteres Kind, das ich meines Wissens nach noch nie gesehen habe. Aber er erinnerte mich an jemanden. Ich könnte jedoch nicht sagen, an wen. Ich hatte keine Zeit, mit Mrs. Thomas über die Neuzugänge zu reden. Ihre Tochter muss diesen Jungen da gezeichnet haben, als sie am Tor, wo die Kinder spielten, auf mich wartete.“ Frances rechnete damit, eine weitere Standpauke gehalten zu bekommen, weil sie Lady Lavinia unbeaufsichtigt im Freien gelassen hatte. Marcus schien jedoch von der Zeichnung wie gebannt zu sein. „Ist es wichtig, wer das Kind ist?“
„Nein, nein“, antwortete Marcus rasch. Es war nicht der Junge, den er suchte, nur ein Kind, das wie dieser aussah. Er würde die Sache jedoch überprüfen müssen, denn er hatte sich vorgenommen, nichts unversucht zu lassen.
„Dann entschuldigen Sie mich jetzt bitte. Ich muss fort, weil ich eine Verabredung habe. Es tut mir leid, dass Sie sich über mich geärgert haben.
Zweifellos werden Sie jemand anderen finden, der Ihre Tochter unterrichtet. Sie ist ohnehin viel zu begabt für mich und braucht jemanden von größerer Kompetenz.“
„Unsinn! Ich entscheide, wer sie unterrichtet. Sie werden so weitermachen wie bisher. Ich warne Sie jedoch. Ich will nicht, dass sie Ihr Haus verlässt, es sei denn, ich begleite Sie beide.“ Er konnte Lady Frances noch nicht von Mrs. Poole erzählen. Falls deren Mann jedoch in der Nähe des Waisenhauses gewesen war und Lavinia erkannt hatte, würde er seine Rachegelüste vielleicht an ihr auslassen. Möglicherweise hatte er sie bereits gesehen.
„Sie sind ungeheuer anmaßend!“,erwiderte Frances wütend. „Ich habe nie jemanden getroffen, der so von sich selbst überzeugt ist. Machen Sie denn nie einen Fehler? Haben Sie nie etwas getan, das Sie dann bereuten?“
„Oh, ja, sehr oft“, antwortete er leise.
„Vermutlich ist es Ihnen nie in den Sinn gekommen, sich zu entschuldigen.“
„Natürlich habe ich das getan, wenn das angebracht war. Gibt es etwas, wofür ich Sie um Verzeihung bitten müsste?“
„Nein, ich wollte Ihnen nur zu verstehen geben, dass Sie eine Entschuldigung annehmen sollten. Ich habe gesagt, dass es mir leidtut.“
Plötzlich lachte Marcus. „Akzeptiert. Und ich bitte Sie um Verzeihung für meine Grobheit. Lassen Sie uns einen Waffenstillstand schließen.“
„Einverstanden.“
„Dann bringe ich meine Tochter morgen zu Ihnen.“
Beim Verlassen des Raums fiel Frances’ Blick auf das über dem Kamin hängende Gemälde. Es war das Porträt einer Dame mit Kind, vermutlich die Mutter Seiner Gnaden mit ihm selber als kleinem Jungen. Er musste etwa drei Jahre alt gewesen sein, als das Bild gemalt worden war. Was Frances das Herz stocken ließ, war seine Haltung. Es hatte den linken Fuß leicht nach vorn gesetzt und sich etwas zurückgelehnt. Auf seinem Gesicht mit dem leicht gereckten Kinn lag ein lachender Ausdruck, und sein Haar war zerzaust. Genau so sah der Junge auf Lady Lavinias Skizze aus, nur dass er statt der prächtigen Kleider Lumpen trug.
Auf dem Heimweg sagte sich Frances, diese Beobachtung habe nichts zu bedeuten. Seit der Ankunft in London hatte Lady Lavinia dieses Gemälde täglich vor
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