Küss mich wie damals
Augen gehabt. Wahrscheinlich war die Haltung des Kindes auf ihrer Skizze nur eine unbewusste Kopie. Aber ihr Vater war sichtlich betroffen gewesen. Frances überlegte, wer ihr gesagt hatte, in seiner Familie gäbe es so eindeutige äußere Merkmale, dass er niemals umhinkäme, ein etwaiges uneheliches Kind sofort zu erkennen. Möglicherweise hatte Lavinia unwissentlich sein Kind der Liebe gezeichnet.
Aber was machte es dann im Waisenhaus? Gewiss war er nicht so gefühllos gewesen, seine Geliebte fallen zu lassen, ohne für deren Lebensunterhalt und den seines Kindes zu sorgen. Hatte sie ihn womöglich verlassen? Die Sache war so geheimnisvoll, dass Frances minutenlang darüber nachgrübelte. Marcus war die Ähnlichkeit des Jungen mit ihm aufgefallen. Vielleicht hatte er Schuldgefühle.
Frances beschloss, mehr über die Angelegenheit herauszufinden, um Gewissheit zu haben.
Daher suchte sie am nächsten Morgen erneut das Waisenhaus auf, sah jedoch kein Kind, das dem von Lady Lavinia gezeichneten ähnelte. Zu ihrem Erstaunen erfuhr sie von Mrs. Thomas, dass am vergangenen Abend ein nicht sehr elegant gekleideter Mann in Begleitung eines anderen da gewesen sei, der ihr das Bild eines kleinen Jungen gezeigt und sich erkundigt hatte, ob sie das Kind kenne. Sie hatte die Frage verneint und wissen wollen, wer der Knabe sei, jedoch keine Erklärung bekommen.
Frances war überzeugt, dass Marcus im Waisenhaus gewesen war. Seine Tochter hatte ihn in schäbiger Kleidung gesehen. Das also war der Grund für die Verkleidung. Er suchte seinen unehelichen Sohn! Frances bat Mrs. Thomas, sie sofort zu benachrichtigen, falls sie das Kind sähe, und auch herauszufinden, wo es wohne. Dann kehrte sie nach Hause zurück, und kurze Zeit später traf der Duke of Loscoe mit seiner Tochter bei ihr ein. Er war in guter Stimmung, sah jedoch übermüdet aus.
Zu ihrer Erleichterung teilte er ihr mit, dass er Lavinia erlaubt habe, an der Soirée teilzunehmen. Er entschuldigte sich mit dem Bemerken, er könne dieses Mal nicht verweilen, und versprach, seine Tochter in zwei Stunden abzuholen.
Frances machte sich mit dem Mädchen daran, die Einladungen für das Fest zu schreiben, damit sie verschickt werden konnten. Bei dieser Tätigkeit bemühte sie sich, nicht mehr an Marcus und den kleinen Jungen zu denken, sondern konzentrierte sich ganz auf ihre Aufgabe und das Fest, das sie eine Woche später zu geben gedachte.
Am nächsten Tag hörte sie im Waisenhaus von Mrs. Thomas, es gäbe einen geheimnisvollen Wohltäter, der ein neues Gebäude für die Kinder gekauft habe. Es sei groß genug, sie alle aufzunehmen, stünde in der Maiden Lane und müsse noch renoviert werden. Die älteren Waisenkinder würden selbstverständlich bei der Instandsetzung helfen.
Natürlich freute Frances sich über diese wunderbare Neuigkeit, begriff jedoch sogleich, dass ein geräumigeres Anwesen mit mehr Kindern höhere laufende Ausgaben und folglich für sie ein größeres Arbeitspensum bedeutete. Sie nahm sich vor, für den über die Königliche Akademie vermittelten Auftraggeber die beiden „Frühling“ und „Sommer“ titulierten Bilder zu malen, sobald sie Lady Lavinias Porträt vollendet hatte, und überlegte sogleich, wie viel sie für sie verlangen könne.
Es wurde zunehmend schwieriger für sie, die beiden Bereiche ihres Lebens in der Waage zu halten. Sie wollte jedoch weder ihr gesellschaftliches Leben noch ihre Malerei oder die Wohltätigkeitsarbeit einschränken. Ihre Unternehmungen hielten sie beschäftigt und ließen ihr nicht die Zeit zum Grübeln. Das hatte sie mit siebzehn getan und bald festgestellt, dass dadurch nichts erreicht wurde. Sie hatte Marcus nicht zurückgewonnen und würde ihn auch jetzt nicht bekommen, wenn sie trüben Gedanken nachhing.
Sie fuhr nach Hause, zurück zu ihrem anderen Leben, um das Porträt zu beenden und die Vorbereitungen für die Soirée abzuschließen.
Die Gäste waren eingetroffen, der Duke of Loscoe mit seiner Tochter, Sir Percival, Major Greenaway, den Frances eines Tages in Begleitung Seiner Gnaden im Hyde Park kennengelernt hatte, die Stieftochter mit ihrem Gatten, James, Mr. und Mrs. Butterworth, Lord und Lady Willoughby mit ihrer Tochter, Lord und Lady Graham, ebenfalls mit Tochter, sowie ein halbes Dutzend anderer junger Damen und sorgsamst ausgewählter lediger Herren. Lady Lavinia war rasch von jungen Kavalieren umringt, die mit ihr tanzen wollten.
„Ein hübsches Mädchen“, meinte Percival.
„Ja,
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