Küss mich wie damals
galt, waren emsig damit beschäftigt, das klemmende Fenster zu öffnen. Frances hatte eine schmutzige Decke vom Bett genommen, um den Lärm zu dämpfen und Hände und Gesicht vor Schnitten durch Glasscherben zu schützen. Dann schlug sie die Scheibe mit einem ihrer Schuhe ein. Das Glas brach und landete klirrend auf der Straße. Der Krach musste von Passanten gehört werden. Die Fensterflügel ließen sich jedoch nicht öffnen, denn die Rahmen waren verzogen. Vielleicht war es möglich, sie mit Gewalt zum Bersten zu bringen, doch das würde vermutlich viel Zeit in Anspruch nehmen und gewaltigen Lärm verursachen.
„Ich muss den Fensterrahmen mit etwas Schwerem einschlagen.“
„Selbst wenn er bricht, könnten wir nicht hinunterklettern, und wenn wir springen, brechen wir uns den Hals. Auch wenn wir heil unten ankommen sollten, kämen wir nicht weit, da die Straße voller Leute ist, die uns aufhalten würden. Mr. Poole hat bestimmt den Wirt angewiesen, gut auf uns aufzupassen.“
„Vielleicht hilft man uns.“
„Glauben Sie das wirklich? Wir sind hier in einem Elendsviertel, und ich befürchte, man wird sofort über uns herfallen.“
Frances war sich bewusst, dass Lady Lavinia recht hatte. Sie musste jedoch irgendetwas unternehmen. Sie konnte nicht untätig bleiben und darauf warten, welches Schicksal ihr beschieden war. Sie ließ die Decke mit den daran haftenden Glassplittern zu Boden fallen und zerrte am Fensterflügel. „Ich würde meinen, angesichts des Umstandes, dass die Häuser hier dem Einsturz nahe sind, müssten die Rahmen beim leisesten Windhauch auseinanderbrechen“, äußerte sie wütend. „Stattdessen sitzen sie so fest wie eine Gefängnisvergitterung. Au, jetzt habe ich mich geschnitten!“ Sie drehte sich um und blieb mit dem Ärmel an einem Holzsplitter hängen. „Und nun habe ich mir auch noch das Kleid zerrissen!“
Lavinia ergriff Lady Frances’ blutende Hand und wickelte ihr Taschentuch darum. „Lassen Sie es bleiben, Lady Frances. Kommen Sie! Setzen wir uns und denken wir uns etwas anderes aus.“
Lächelnd ging Frances zum Bett und setzte sich neben das Mädchen. „Wissen Sie, Lady Lavinia, Sie sind sehr gefasst. Ich habe damit gerechnet, Sie vollkommen außer sich anzutreffen.“
„Ich gestehe, dass ich, als ich allein war, mich dem Zusammenbruch nahe fühlte. Jetzt jedoch, da Sie bei mir sind und ich weiß, dass Papa zu uns unterwegs ist, mache ich mir keine Sorgen mehr.“ Plötzlich lachte sie auf. „Wir werden ein ausgiebiges Bad nehmen und die Kleidung verbrennen lassen müssen. Ich befürchte, das Bett ist voller Flöhe. Zweifellos wird Papa uns nicht in seine Kutsche lassen, sodass wir in einer Droschke nach Hause fahren müssen.“
Frances war froh, dass Lady Lavinia scherzen konnte. Aber Marcus’ Tochter wusste nicht, wie brutal Mrs. Poole ermordet worden war. Was Mr. Poole ein Mal getan hatte, konnte er auch ein zweites Mal tun. Frances lächelte. „Wenigstens haben wir jetzt etwas frische Luft. Wenn wir gut aufpassen, sehen wir Ihren Papa vielleicht kommen und können ihm etwas zurufen.“
Das sollte jedoch nicht der Fall sein, denn einige Minuten später kehrte Mr. Poole mit dem Wirt zurück, den er mit Mr. Mullet ansprach. Dann erklärte er Frances und Lady Lavinia, er werde sie fortbringen.
„Warum?“, wollte Frances wissen.
„Ich will dem Duke of Loscoe und seinen Spürhunden entkommen, was sonst.“ Er ergriff Frances am Arm, band ihr mithilfe des Wirtes die Hände auf den Rücken und knebelte sie. Anschließend tat er dasselbe mit Lady Lavinia, die sich heftig zur Wehr setzte. Dann warfen er und der Wirt sich je eine der sich sträubenden Frauen über die Schulter und trugen sie ins Parterre, durch den Schankraum und ins Freie, wo sie in einer schäbigen Kutsche, deren Fenster verhangen waren, untergebracht wurden.
Die Fahrt dauerte Stunden, doch plötzlich hielt der Wagen an. Frances hatte sich aufgesetzt und so gut wie möglich versucht, sich von den Handfesseln zu befreien. Sie schaute auf, als Mr. Poole die Tür öffnete. „Hinaus!“, befahl er.
Da sie nicht schnell genug gehorchte, packte er sie am Arm und riss sie aus dem Wagen. Schwankend hielt sie sich auf den Beinen und schaute sich um, während Lady Lavinia die gleiche grobe Behandlung widerfuhr. Man hatte neben einem einsam liegenden Cottage angehalten. Es war der schmale Weg zu sehen, auf dem man hergekommen war. Er wand sich durch unebenes Gelände, und Frances glaubte, man
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