Küss mich wie damals
etwas auf die Tischplatte zu zeichnen.
Mr. Mullet stand auf und stellte überrascht fest, dass sie ihn skizzierte, noch dazu sehr lebensecht. Frances forderte ihn auf, sich zu setzen, damit sie die Zeichnung vollenden könne. Er nahm wieder Platz und erstarrte zu einer steifen Pose. „Nein, nein“, sagte Frances. „Das ist nicht gut. Trinken Sie weiter. Dann ist die Haltung natürlicher.“
Er entspannte sich, und sie zeichnete weiter. Falls Marcus hier eintraf, wenn seine Tochter und sie nicht mehr da waren, hatte er zumindest einen Hinweis auf einen der Übeltäter, den er dann bestrafen lassen konnte. Unter die Skizze schrieb sie: „Mr. Mullet von der ‚Diebischen Elster‘.“ Dann täuschte sie, indem sie den Kopf auf die Arme legte, vor, müde geworden zu sein, und verbarg auf diese Weise den Bildtitel. Mr. Mullet trank weiter, und die Flasche leerte sich zusehens.
Schließlich stand er auf und wankte zur Tür. Dort drehte er sich um und vergewisserte sich, dass die Gefangenen eingeschlafen waren. Zufrieden verließ er die Kate. Frances sprang auf und schüttelte Lady Lavinia. „Pst! Leise! Folgen Sie mir!“
Die Damen huschten ins Freie. Sie konnten Mr. Mullet im Abtritt hören. Er sang aus voller Kehle ein anzügliches Lied. Frances nahm ein dickes Stück Holz an sich, das sie zuvor gesehen hatte, und stemmte es geräuschlos schräg gegen die Tür, sodass Mr. Mullet im Abort eingesperrt war. „Jetzt!“, flüsterte sie. „Verschwinden wir, so schnell und so weit wie möglich, ehe er merkt, was passiert ist.“
Sie hatten nur einen Fluchtweg, und das war der Weg, auf dem man hergekommen war. Es wäre töricht gewesen, sich in die Marsch zu wagen. „Wir werden versuchen, zur Kirche zu gelangen“, sagte Frances. „Gott sei Dank ist es fast dunkel. Aber achten Sie darauf, nicht vom Weg abzukommen, denn dann verirren wir uns ganz bestimmt.“
Hand in Hand rannten sie los. Sie hetzten voran, bis sie außer Atem waren und nicht mehr laufen konnten. Das Cottage war hinter einem Hügel verschwunden, doch der Kirche schienen sie nicht näher gekommen zu sein. Sie war wahrscheinlich etliche Meilen entfernt. Zumindest die Marsch hatte man jetzt hinter sich, und zu beiden Seiten des Weges lag mit Büschen und Gestrüpp durchsetztes Weideland, auf dem hin und wieder eine Kuh zu sehen war, die sich zum Schlafen hingelegt hatte.
„Glauben Sie, dass Mr. Mullet sich mittlerweile befreit hat?“, fragte Lavinia nach Atem ringend und horchte angestrengt, ob sie verfolgt wurden.
„Vermutlich. Wir müssen weiter.“
Die Damen waren etliche weitere Minuten unterwegs, als sie das Geräusch eines sich rasch nähernden Fuhrwerks vernahmen. Im Nu versteckten sie sich im Straßengraben, blieben still liegen und wagten kaum zu atmen, als eine alte Kutsche an ihnen in Richtung der Kate vorbeifuhr. „Mr. Poole“, flüsterte Frances und hob den Kopf. „Er war nicht allein.“ Sie richtete sich auf und starrte der Chaise hinterher. „Jetzt sputen wir uns besser, denn sobald Mr. Poole von Mr. Mullet erfahren hat, was geschehen ist, macht er sofort kehrt und versucht, uns einzuholen.“
Sie hatte den Satz kaum ausgesprochen, als das Fahrzeug anhielt. „Man hat uns gesehen. Rennen Sie!“
Frances und Lady Lavinia verließen die Straße und flohen durch das Gras. In der Eile stolperten sie mehrmals. Zwei Männer verließen die Kutsche und stürmten hinter ihnen her. Die Damen hörten sie schreien, hetzten jedoch weiter, verdreckten sich die Schuhe und zerrissen sich am Gestrüpp die Kleider.
„Vinny! Lady Frances! Um Himmels willen, hört auf zu rennen!“
Jäh blieb Frances stehen, als sie die Stimme erkannte.
„Papa!“ Auch Lavinia hatte endlich begriffen, was die Männer riefen. Sie drehte sich um, rannte zu ihnen zurück und warf sich in die ausgebreiteten Arme des Vaters. Frances folgte ihr etwas langsamer und blieb keuchend vor ihm stehen. „Dem Himmel sei Dank, dass Sie und meine Tochter jetzt in Sicherheit sind. Bist du verletzt, Vinny? Haben die Männer dir wehgetan?“
„Nein. In Gegenwart von Lady Frances haben sie nicht gewagt, mir etwas anzutun.“ Lachend hob Lavinia den Kopf. „Du hättest Lady Frances sehen sollen, Papa. Sie war so mutig wie eine Löwin. Und als dieser grässliche Mr. Mullet zur Toilette gegangen war, hat sie ihn eingesperrt, sodass wir fliehen konnten. Falls er sich hat befreien können, tobt er jetzt bestimmt vor Wut.“
Marcus lächelte und griff an der Tochter vorbei
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