Küsse im Morgenlicht
Unwetter war inzwischen weitergezogen.
Und doch war die geheimnisvolle Macht, die Luc und Amelia mit solch geradezu verheerender Kraft einander zugeführt und sie durchströmt hatte, noch immer da. Nur dass selbst diese mystische Energie im Augenblick zu schlummern schien. Sie ruhte und war doch nichtsdestotrotz noch höchst lebendig. Sie atmete im gleichen Rhythmus, in dem auch Lucs Atem ging, rauschte durch seine Adern, hatte ihn ganz in ihrer Gewalt.
Und sie würde ihn immer besitzen, jeden einzelnen Tag seines Lebens. Bis zu seinem Tod.
Ob Amelia all das wohl wusste? Ob sie es verstehen würde, wenn er es ihr gestand?
Auch diese Fragen würden wohl auf ewig unbeantwortet bleiben.
Doch selbst wenn Amelia diese Macht auch nur erahnte, so würde er dies spätestens am kommenden Morgen erfahren. Dann nämlich, wenn sie erwachte und zum ersten Mal versuchen würde, ihn zu gängeln und zu dirigieren. Wenn sie versuchen würde, ihm die Macht über sich zu entreißen. Jene Macht, die, wenn Luc ganz ehrlich war, ohnehin bereits in ihren Händen lag.
Er hatte Amelia lange betrachtet. Nun ließ er den Kopf mit einem Seufzer wieder zurück in die Kissen sinken und lauschte dem Regen.
Er ergab sich.
Die Männer waren sich stets so sicher, dass ihre Angebeteten sich ihnen irgendwann ergeben würden.
Aber auch die Männer ergaben sich.
Sie ergaben sich jener unsagbaren Macht.
Viele Meilen weiter südlich tosten noch immer die Sturmwinde und zerzausten die Wipfel der uralten Bäume von Somersham Place. Doch die treuen Gefährten des Anwesens waren zu alt und zu stolz, um sich der Macht des Sturms zu beugen, um mehr als bloß einige wenige Zweige ihrer knorrigen Leiber vor ihm zu neigen. Der Wind musste sich also wohl oder übel damit begnügen, lediglich durch die obersten Äste der Baumriesen zu peitschen und stattdessen wütend Wolkenberge vor den Mond zu türmen. Das Unwetter kreierte eine raue, unwirtliche Landschaft mit wild umhergeisternden Schatten.
Das Herrenhaus lag in tiefe Dunkelheit getaucht. Es war weit nach Mitternacht, und alle, die unter dem weit ausladenden Dach von Somersham Place wohnten, hatten sich längst zur Nachtruhe zurückgezogen. Oder so schien es zumindest.
Alle, bis auf jene schmale, zierliche Gestalt, die zu dieser späten Stunde verstohlen aus einer der Seitentüren des Hauses schlüpfte. Nur mit Mühe konnte sie die schwere Holztür in dem Sturm wieder schließen. Gleichzeitig musste sie darum kämpfen, dass der Wind ihr nicht den Umhang fortriss. Fest schlang sie ihr Cape um sich. Die Kapuze aber wollte in jedem Fall nicht auf ihrem Kopf verweilen - resignierend ließ die junge Dame sie einfach hinter sich herflattern. Rasch, so schnell sie konnte, eilte sie über den schmalen Seitenpfad, duckte sich hier und da hastig unter den tief hängenden Zweigen hindurch, während ihr Retikül unentwegt um ihre Beine schlenkerte und gegen ihre Oberschenkel schlug. Doch sie ignorierte es einfach.
Dann huschte sie weiter, quer über die Rasenflächen, eilte um das Herrenhaus herum zur Vorderseite und rannte schließlich auf jene kleine Baumgruppe zu, die ein kleines, der Vorderfront des Haupthauses zugewandtes Gartenhaus umschloss. Dort, aus den Schatten zwischen den dunklen Stämmen, kam Jonathan Kirby auf sie zu.
Die junge Dame war ganz außer Atem, als sie ihn endlich erreichte. Ohne ein einziges Wort blieb sie vor ihm stehen, hob ihr Retikül, öffnete es und zog einen zierlichen zylinderförmigen Gegenstand heraus. Mit einem ängstlichen Blick zurück zum Haus reichte sie Kirby das wertvolle Stück.
Kirby hielt das schlanke Gefäß in das unbeständige Licht, betrachtete die kunstvolle Ziselierung und wog es prüfend in der Hand.
Die junge Dame wandte sich wieder zu ihm um. Atmete einmal tief durch. Dann fragte sie zaghaft: »Und? Wird das erst mal reichen?«
Kirby nickte. »Ja, das wird reichen.«
Damit ließ er das kleine, doch schwere Gefäß - ein antiker Salzstreuer - in eine der Taschen seines weiten Mantels gleiten. Eindringlich ruhte sein Blick auf der jungen Dame. »Zumindest fürs Erste.«
Abrupt hob sie den Kopf und starrte ihn an. Selbst in dem schwachen Licht konnte er deutlich erkennen, wie sie mit einem Mal erbleichte. »Was... was meint Ihr damit - fürs Erste ? Ihr hattet gesagt, dass ein einziges Stück aus diesem Haus bereits ausreichen würde, um Edward für eine ganze Weile über Wasser zu halten.«
Kirby nickte. »Ja, was Edward betrifft, so dürfte das auch
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