Kuessen al dente - Roman
vorher nicht mal eine Zehe ins Wasser gesteckt. »Gut fürs Herz«, hatte sie Georgia immer zugerufen, wenn sie prustend aus dem Wasser kam, in ihrem grünen Badeanzug mit Röckchen, der ihr an den Oberschenkeln klebte, den gewaltigen Busen forsch nach vorn gereckt.
Auch nachdem Großvaters früher Tod sie zu einer alleinerziehenden Mutter gemacht hatte, verlor Grammy nie ihre unbändige Lebensfreude. Wie sie sagte, hätte sie sofort wieder heiraten können. Es hatte zahlreiche Bewerber gegeben — einschließlich ihres Hausarztes –, aber das wäre zu einfach gewesen. Stattdessen entschied sie, sich ganz dem Aufbau ihrer Bäckerei zu widmen, und arbeitete sieben Tage die Woche, um Dorothy, ihrer einzigen Tochter, etwas bieten zu können. Als Georgia dann geboren wurde, war sie bereit, ihr Nudelholz hinzuwerfen. Sie hatte sich damals vor lauter Arbeit nicht so intensiv um Dorothy kümmern können, wie sie es sich gewünscht hätte, und sah in Georgia ihre zweite Chance, die sie sich nicht entgehen lassen wollte. »Wenn du glücklich sein willst«, pflegte Grammy zu sagen, »dann sei
ehrlich zu dir selbst und arbeite hart, damit du dich nie fragen musst, was wäre wenn?«
Ein paar Zuckerwattewolken zogen an der Sonne vorbei und das bisschen an Schatten genügte, dass Georgia erschauderte und eine Gänsehaut bekam. Das Meer und der Himmel hatten fast die gleiche Farbe. Georgia kniff die Augen zusammen und versuchte zu bestimmen, wo am Horizont sie sich trafen. Irgendwo dort draußen lag ihre Zukunft. Sie hob die Hände über den Kopf, legte die Handflächen aneinander und tauchte kopfüber in das salzige Meer.
Georgia zog die Schlüsselkarte durch das Schloss und schob die Zimmertür auf. »Gianni?«, rief sie. »Hallo?«
Der einzige Laut war das Brummen der Klimaanlage, die sie, wie sie geschworen hätte, ausgeschaltet hatte, ehe sie am Morgen nach Vendicari aufgebrochen war. Mutter Erde mochte es nicht, wenn die Klimaanlage den ganzen Tag lief, besonders wenn niemand zu Hause war, deshalb schaltete sie sie nun ab, um die verschwendete Energie wettzumachen. Dann zog sie die Sandalen aus und lümmelte sich aufs Bett, wobei ihr Blick auf die kleine Vase mit weißen Freesien auf dem Nachttisch fiel, an der ein cremefarbener Umschlag lehnte. Das Kuvert war an »Signora Georgia Grigio« adressiert. Ins Italienische übersetzt klang ihr Name so viel hübscher, fand Georgia.
»Liebe Georgia«, las sie laut. »Ich werde gegen fünf Uhr zurück sein und hole dich ab. Wir fahren zum Weingut meines Freundes. Legere Kleidung. Bis dann, Gianni.«
Sie lehnte sich zurück in die Kissen und versuchte, sich ihr Leben als Chefköchin im Palazzo Lazarro und Freundin des Hotelbesitzers vorzustellen – denn sie wusste, dass Gianni sie nur in dieser Kombination an seiner Seite wissen wollte. In
der Anfangszeit, wenn sie sich gerade einrichtete, stellte sie sich eine Abfolge von Abendessen und Besuchen auf Weingütern vor, Mittagessen unter freiem Himmel und Sex zu jeder Tages- und Nachtzeit. Später dann, am Ende der Planungs-und zu Beginn der Ausführungsphase, würde sie rund um die Uhr arbeiten müssen und Gianni würde anfangen, sich zu fragen, wo das lebenslustige Mädchen abgeblieben war, das nie eine Gelegenheit hatte verstreichen lassen, ihn zu einem Schäferstündchen zu animieren, und das jetzt jeden Abend fix und fertig ins Bett sank. Was eine sehr wichtige Frage aufwarf: Wollte sie zwei Jahre ihres Lebens darauf verwenden, das Restaurant eines anderen aufzubauen? Oder wollte sie zurück nach New York gehen und genau diese Energie in ihr eigenes Projekt stecken?
Ein rascher Blick auf die Uhr beendete ihre tiefsinnigen Gedanken. Ihr blieb gerade noch genügend Zeit, um zu duschen und ein »legeres« Outfit auszusuchen, das sie als Sommerkleid und Sandalen interpretierte. Sie schlüpfte aus ihren Klamotten, ging unter die Dusche und fragte sich, ob diese Kleidervorschrift auf Giannis Mist gewachsen oder in Italien üblich war, und kam zu dem Schluss, dass es vermutlich von beidem etwas war.
Selbst am frühen Abend brannte die Sonne mit unverminderter Kraft vom Himmel. Im Hintergrund erhob sich der Ätna, der auch im Sommer eine Schneekappe trug. Immer mal wieder fuhr ein heißer Wind raschelnd durch die Weinreben, wie um an den legendären Schirokko zu erinnern, der von der Sahara kommend ein paarmal im Jahr über Sizilien hinwegfegte und jede Menge Sand und Staub mitbrachte. Georgia und Gianni spazierten an
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