Kuessen al dente - Roman
Brust und starrte zuerst auf den Boden zu seinen Füßen und hob dann den Kopf, um
einer Schar Hühner zuzusehen, die emsig Würmer aus der Erde pickte. Als er nach einer Weile endlich Georgia anschaute, lag weder Verletztheit noch Traurigkeit oder Enttäuschung in seinem Blick. Sondern unverhohlene Wut.
»Da machst du einen Fehler, Georgia. Einen großen Fehler. «
»Ich …«
»Wir bieten dir die Chance deines Lebens. Bessere Bedingungen wirst du nirgendwo finden. Und wenn du nicht in der Lage bist, das zu erkennen, bist du es nicht wert, im Lazarro zu arbeiten.«
»Ich erkenne das sehr wohl, Gianni, und ich schätze euer Angebot auch. Aber ich möchte keinen anderen Job. Ich möchte mich selbstständig machen, mein eigenes Restaurant führen.«
»Dein eigenes Restaurant? Warum denn? Damit du dein eigenes, riesengroßes Ego füttern kannst? Ist das denn nicht – wie sagt ihr dazu – ein Klischee?«
Sie schluckte. »Ich finde nicht, dass mein Wunsch etwas mit einem Klischee zu tun hat. Ich möchte einfach etwas …«
»Und woher nimmst du die Sicherheit, dass du zum Führen eines eigenen Restaurants überhaupt qualifiziert bist? Weißt du denn, wie hart das ist? Weißt du, wie viele damit scheitern? «
»Natürlich weiß ich das, Gianni. Aber ich glaube an mich. Und andere Leute glauben auch an mich. Wie Claudia zum Beispiel. Und Menschen wie du.« Sie griff nach seiner Hand, doch er zog sie brüsk zurück.
»Ich weiß nicht, ob das noch so ist.« Er schaute sie einen Moment lang intensiv an, dann zog er seine Sonnenbrille aus der Hemdtasche und setzte sie auf. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, machte ihn wieder zu und ging davon.
Auf dem Weg zurück hätte er beinahe eine Henne überrannt, die seinen Weg kreuzte.
»Gianni!«, rief Georgia ihm nach. »Bitte, lass uns nicht so auseinandergehen!«
Falls er sie gehört hatte, reagierte er nicht darauf. Er war weg.
17
E s stand völlig außer Frage, dass Georgia ihre Eltern allein in Empfang nehmen würde, und schon gar nicht an diesem Abend. Deshalb stand sie draußen vor der Villa della Porta Accanto, blinzelte in die Abendsonne und wartete auf Vanessa, die sie abholen wollte. Die Bäume verloren bereits das erste Laub, die Luft kühlte ein wenig ab. Der September war angebrochen, und die Haltbarkeitsdauer des Sommers lief bald ab.
So lange Georgia sich erinnerte, hatte das Ende des Sommers sie stets mit Angst erfüllt. Nicht diese erwachsene Angst, die einen nachts nicht schlafen lässt oder einem Bauchschmerzen bereitet, sondern dieser kindliche Glaube, dass es den kühleren, kürzeren Herbsttagen niemals gelingen könnte, so schön zu werden, wie die gemütlichen faulen Sommertage es gewesen waren. Grammy schloss das Sommerhäuschen am See und machte es winterfest, Georgia kehrte zu ihren Eltern zurück, und die Tür zu den sorglosen, unbeschwerten Sommerfreuden fiel ins Schloss. Doch in dem September, als sie ins College kam, ereignete sich ein grundsätzlicher Wandel: Anstatt nach Hause zurückzukehren, verließ sie ihr Zuhause, höchstwahrscheinlich für immer. Die Angst vor dem Herbst verflüchtigte sich wie ein Luftballon, den man fliegen ließ. In dem gebrauchten, für sie aber nagelneuen hellbraunen Toyota Camry, Georgias Abschlussgeschenk, für das ihre Eltern und Grammy zusammengelegt hatten, fuhr sie rückwärts aus der Einfahrt und winkte zum Abschied. Das war das Jahr, in
dem sie den Herbst lieben lernte. Niemals hatte das Laub unter ihren Füßen so lustig geraschelt. Niemals waren die Nächte frischer gewesen, niemals der Himmel von mehr Sternen übersät. Der Herbst wurde zu ihrer liebsten Jahreszeit.
Und während sie jetzt auf Vanessa wartete, ertappte sie sich dabei, dass sie sich plötzlich wieder vor dem Ende des Sommers fürchtete. Nicht weil es kühler wurde, die Blumenpracht langsam verwelkte oder die Baumkronen lichter wurden, sondern weil es, wie in diesen früheren Jahren, den Wiedereintritt ihrer Eltern in ihr Leben einläutete und damit einen Schlussstrich unter die sommerlichen Abenteuer zog. Diese »Reise auf den Kontinent«, die ihr Vater ihr vor vielen Wochen in seiner Mail angekündigt hatte, stand nun unmittelbar bevor. Schon bald würde sie wieder in New York sein und Clem und Lo in allen Einzelheiten ihre Erlebnisse in Italien schildern, und alle Mitwirkenden in dieser toskanischen Sommersaga — Claudia, Vanessa, Effie, Bruno, Sergio, Gianni, ja sogar Gianni – würden wie die Trattoria Dia schon
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