Küssen will gelernt sein: Roman (German Edition)
darüber, was sie gegen ihre Gefühle für ihn unternehmen sollte. Alles, was sie tun musste, war, die nächsten sechs Monate zu überstehen.
SECHZEHN
Der Festzug eröffnete das Winterfestival von Truly und löste einen Skandal aus, von dem man noch Jahrzehnte später sprechen sollte. Marty Wheeler, der den Weihnachtsmann darstellen sollte, war so sturzbetrunken, dass er einen Kopfsprung vom Schlitten machte und das Bewusstsein verlor. Marty war klein, untersetzt und stark behaart. Er arbeitete an der Chevron-Tankstelle in der Sixth, wo er Motoren überholte, und unterrichtete nebenbei Kung Fu Dojo. Dass Marty sich vor und während des Umzugs volllaufen ließ, schockierte niemanden; sein Geschmack, was Unterwäsche betraf, verschlug den Schaulustigen jedoch die Sprache. Als die herbeigerufenen Sanitäter sein Weihnachtsmannkostüm aufknöpften und ein knallpinkes Strapsbustier zum Vorschein kam, waren alle fassungslos. Außer Wanetta Van Damme, die schon immer der Meinung war, der dreiundvierzig Jahre alte Junggeselle sei »ein bisschen schwul«.
Delaney tat es fast leid, Marty in seiner Reizwäsche verpasst zu haben, aber sie war im alten Tanzsaal des kleinen Gutshofs mit den Vorbereitungen für die Modenschau beschäftigt gewesen. Sie half dabei, die Bühne mit Lametta und Silbersternen und den Laufsteg mit Lichterketten und Kiefernzweigen zu schmücken, und stellte in der Garderobe beleuchtete Spiegel und Stühle auf. Haargel und Schaumfestiger sowie große Dosen Haarspray und kleine Stechpalmenzweige hatte sie mitgebracht. Sie ging davon aus, dass die Einwohner von Truly für
abgefahrene Haute-Couture-Frisuren noch nicht bereit waren. Keine Rosenstöcke oder Vogelnester für die Damen. Daher hatte sie Fotos von geflochtenen und gedrehten Zöpfen und Pferdeschwänzen dabei, die sie in zehn bis fünfzehn Minuten pro Kopf hinbekommen würde.
Die Modenschau sollte um sieben beginnen, und eine halbe Stunde vorher war Delaney vollkommen in die Arbeit vertieft. Sie flocht Haare zu Strängen und Knoten, drehte sie von innen nach außen und stülpte sie um. Sie zwirbelte sie, schlug sie unter und rollte sie auf, während sie sich die allerneuesten Pikanterien anhörte und insgeheim erleichtert war, dass Marty ihren Spitzenplatz in der Gerüchteküche erobert hatte.
»Eine Krankenschwester hat es Patsy Thomason erzählt, und die hat es wiederum mir erzählt, dass Marty auch so einen Spitzentanga anhatte«, erfuhr Delaney von Lillie Tanasee, der Frau des Bürgermeisters, während sie ihr eine Zopfkrone ins rotbraune Haar flocht. Lillie hatte sich und ihr Töchterchen mit zueinander passenden rotgrünen Taftkleidern herausgeputzt. »Patsy sagt, das Strapsbustier und der Tanga waren von Victoria’s Secret. Können Sie sich so was Geschmackloses vorstellen?«
Delaney hatte im Laufe der Jahre schon mit vielen schwulen Friseuren zusammengearbeitet, aber mit einem Transvestiten hatte sie es noch nie zu tun gehabt – jedenfalls nicht, dass sie wüsste. »Wenigstens ist er nicht knauserig. Geschmacklosigkeit stört mich nicht so sehr wie Knauserigkeit.«
»Mein Mann hat mir mal so ein Teil aus Nylon gekauft, bei dem der Schritt offen ist«, gestand eine Frau, die darauf wartete, dass sie drankam. Sie hielt dem kleinen, als Elfe verkleideten Mädchen neben sich die Ohren zu. »Es war drei Nummern zu klein und so billig, dass ich mir wie eine zweitklassige Prostituierte vorkam.«
Delaney schüttelte mitleidig den Kopf, während sie ein paar Stechpalmenfrüchte in Lillies Haare flocht. »Es geht doch nichts über billige Unterwäsche, um einer Frau das Gefühl zu vermitteln, eine Nutte zu sein.« Sie schnappte sich eine gigantische Haarspraydose und besprühte Lillies Kopf von allen Seiten. Als Nächste hüpfte das Bürgermeisterstöchterchen Misty auf den Stuhl, und Delaney machte ihr die gleiche Frisur wie ihrer Mama. Mehrere Frauen, die sich die Haare selber gestylt hatten, standen etwas abseits; Benita Allegrezza war eine von ihnen. Aus den Augenwinkeln beobachtete Delaney, wie Nicks Mutter sich mit ihren Freundinnen unterhielt. Sie schätzte Benita auf Mitte fünfzig, aber sie wirkte gute zehn Jahre älter. Delaney fragte sich, ob es an den Genen oder an ihrer Verbitterung lag, dass sich die Falten auf Benitas Stirn und um ihren Mund so tief eingegraben hatten. Sie sah sich suchend nach ihrer Mutter um und war nicht besonders überrascht, sie schon perfekt frisiert mitten im Getümmel zu entdecken. Helen war nirgends
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