Kultur 04: Ein Geschenk der Kultur
etwas in Erfahrung
bringen konnte. Einen Großteil der Zeit verbrachte ich
überdies damit, einfach nur herumzuspazieren und die Leute zum
Plaudern zu bringen. Ich erledigte alles pflichtgetreu, obwohl es
nicht immer so leicht und wenig anstrengend war, wie es sich
vielleicht anhört; aufgrund der merkwürdigen Sexualmoral der Einheimischen geriet eine Frau manchmal in ziemlich peinliche
Situationen, wenn sie einfach einen Mann ansprach. Ich vermute, wenn
ich nicht gute zehn Zentimeter größer gewesen wäre
als der Durchschnitt der Männer, hätte ich bestimmt noch
mehr Schwierigkeiten gehabt, als es so schon der Fall war.
Mein anderes Problem war das Schiff an sich. Es versuchte
andauernd, mich dazu anzutreiben, so viele Orte wie möglich zu
besuchen, so viel zu erledigen, wie ich nur eben schaffte, mich mit
so vielen Leuten zu unterhalten, wie ich nur konnte. Sieh dir das an,
hör dir jenes an, triff dich mit der, sprich mit dem, besichtige
diese, trage jenes… Das Schlimme war nicht so sehr, daß es
so viele verschiedene Dinge von mir verlangte – es kam selten
vor, daß das Schiff etwas von mir forderte, was ich nicht
ohnehin gerne tat –, sondern daß das verdammte Ding
wollte, daß ich ständig etwas tat. Ich war seine
Botschafterin in der Stadt, sein menschliches Tentakel, eine Wurzel,
durch die es mit aller Kraft Dinge aufsog und jenes anscheinend
bodenlose Loch zu speisen versuchte, das es sein Gedächtnis
nannte.
Ich machte Ferien von den Strapazen, und zwar an abgelegenen,
unberührten Stellen: an der Atlantikküste Irlands und den
Hochebenen Schottlands und Islands. In County Kerry, in Galway und
Mayo, in Wester Ross und Sutherland und Mull und Lewis trödelte
ich herum, während das Schiff versuchte, mich mit Drohungen und
Schmeicheleien und die Verheißung vieler interessanter Aufgaben
zurückzuholen.
Doch Anfang März war meine Mission in London beendet; ich
wurde nach Deutschland geschickt, wo ich mich überall umsehen
sollte. Ich bekam den Auftrag, hierhin und dorthin zu reisen und mich
treiben zu lassen, und ich bekam ein paar Informationen über
einige Orte und Daten und Dinge, die ich tun oder ansehen und
über die ich nachdenken sollte.
Nachdem ich nun Englisch nicht mehr sprach, ergab es sich,
daß ich anfing, aus reiner Freude Werke in dieser Sprache zu
lesen, und mit dieser Beschäftigung verbrachte ich meine
spärlich bemessene Freizeit.
Das Jahr nahm seinen Lauf, allmählich wurde der Schnee
weniger, die Luft erwärmte sich, und nach Tausenden und
Abertausenden von Kilometern, die ich auf Straßen und Schienen
zurückgelegt hatte, und nach unzähligen Hotelzimmern, wurde
ich Ende April aufs Schiff zurückbeordert, damit ich ihm
über meine Gedanken und Gefühle berichtete. Das Schiff
strengte sich nach Kräften an, die Stimmung des Planeten zu
erfassen, sich jenen Eindruck zu verschaffen, für den nur
direkte zwischenmenschliche Beziehungen das Rohmaterial liefern
können. Es sortiere seine Daten, ordnete sie neu, mischte sie
nach dem Zufallsprinzip und sortierte wieder, suchte nach Mustern und
Regeln und versuchte, alle Empfindungen, denen seine menschlichen
Agenten ausgesetzt gewesen waren, einzuschätzen und
abzuwägen und sie in Relation zu setzen zu seinen eigenen
Schlüssen, zu denen es gekommen war, während es durch einen
Ozean von Fakten und Zahlen schwamm, die es sich bereits über
diese Welt beschafft hatte. Unsere Arbeit war damit natürlich
keineswegs beendet, und ich und all die anderen, die sich auf dem
Planeten aufgehalten hatten, würden noch einige Monate dort
verbringen, aber jetzt war es zunächst einmal an der Zeit, die
ersten Eindrücke zu übermitteln.
2.2: Ein Schiff mit Aussicht
»Du bist also der Ansicht, wir sollten den Kontakt aufnehmen,
ja?«
Ich lag schläfrig und zufrieden und satt nach einem
ausgiebigen Abendessen ausgebreitet auf einer gepolsterten Liege in
einem Ruhebereich mit gedämpftem Licht; die Füße
hatte ich auf die Armlehne eines Sessels gelegt, die Arme
verschränkt und die Augen geschlossen. Ein sanfter, warmer
Luftzug, entfernt alpin duftend, löste den Geruch der Speisen
ab, die ich zusammen mit einigen Freunden verzehrt hatte. Sie hatten
sich alle verzogen, um in einem anderen Teil des Schiffes irgendein
Spiel zu spielen, und ich hörte leise ihre Stimmen neben der
Bach-Musik, die zu mögen ich dem Schiff eingeredet hatte und die
es jetzt für mich erklingen ließ.
»Ja, das tue ich. Und zwar sollte das so bald
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