Kultur 04: Ein Geschenk der Kultur
weil sie so schwer zu
erfassen und auszudrücken ist – eine Freiheit von einer
weit höheren Qualität als alles, was nach jedem
entsprechenden Maßstab auf dem Planeten, der sich zur Zeit
unter uns befindet, gefunden werden kann.
Dieselbe technologische Sachkenntnis, derselbe
Produktionsüberschuß, die aufgrund ihrer Verbreitung in
der gesamten Gesellschaft uns überhaupt erst ermöglichten,
hier zu sein, und uns überdies jenes Maß an freier
Entscheidung, das wir hinsichtlich dessen, was mit der Erde
geschieht, gewähren, gestatten uns schon seit langem, ganz nach
unserem Belieben zu leben, mit der einzigen Einschränkung,
daß von uns die Achtung gegenüber der Gültigkeit
dieser Prinzipien auch für andere erwartet wird. Und das ist
etwas so Grundsätzliches, daß nicht nur die meisten
Religionen auf der Erde ähnlich lautende Worte in ihren
Schriften haben, sondern auch fast jede Religion, Philosophie oder
jedes sonstige Glaubenssystem, das je irgendwo entdeckt wurde,
denselben Gedanken enthält. Es ist diese fest verankerte
Errungenschaft, dieses oft verkündete Ideal, dessen sich unsere
Gesellschaft – abartigerweise – schämt. Wir leben mit
dieser Freiheit, wenden sie an, kommen einfach gut zurecht mit
ihr, so sehr, wie diese guten Leute auf der Erde darüber
sprechen; während wir so selten darüber sprechen, wie echte
Beispiele dieses raren Idealzustandes dort unten zu finden sind.
Dervley Linter ist ebenso ein Produkt unserer Gesellschaft, wie
ich es bin, oder zumindest darf er so lange, bis ihm nachgewiesen
werden kann, daß er im eigentlichen Sinn
›verrückt‹ ist, mit Fug und Recht erwarten, daß
seine Wünsche erfüllt werden. Tatsächlich ist der
Umstand, daß er um eine derartige Veränderung gebeten
– und sie von mir angenommen – hat, möglicherweise ein
Beweis dafür, daß sein Denken noch immer stärker von
der Kultur als von der Erde beeinflußt ist.
Kurz gesagt, selbst wenn ich der Meinung gewesen wäre,
fundierte Gründe für die Ablehnung seines Ansinnens zu
haben, hätte ich ebenso große Schwierigkeiten gehabt, ein
solches Vorgehen zu rechtfertigen, wie ich sie gehabt hätte,
wenn ich den Kerl einfach in dem Moment gepackt und von dem Planeten
geholt hätte, in dem ich merkte, was in seinem Kopf vor sich
ging. Wenn ich versuchen sollte, Linter zur Rückkehr zu bewegen,
kann ich mir nur dann der Rechtmäßigkeit meines Handelns
vollkommen sicher sein, wenn ich felsenfest davon überzeugt bin,
daß mein eigenes Verhalten – als die intelligenteste
betroffene Wesenheit – über jede Anfechtung erhaben ist und
sich so sehr im Einklang mit den Grundprinzipien unserer Gesellschaft
befindet, wie es in meiner Macht steht.«
Ich betrachtete das Empfindungsband der Drohne. Während des
gesamten Wortschwalls war ich stocksteif dagestanden und hatte keine
Regung gezeigt. Jetzt seufzte ich.
»Nun«, sagte ich, »ich weiß nicht so recht;
das klingt fast… edel.« Ich verschränkte die Arme.
»Das einzige Problem ist, Schiff, daß ich nie
unterscheiden kann, ob es dir wirklich um die Sache geht oder ob du
nur um des Redens willen redest.« >
Das Gerät verharrte ein paar Sekunden lang reglos auf der
Stelle, dann wendete es und schwebte davon, ohne noch ein weiteres
Wort zu verlieren.
4.5: Das Problem der Glaubwürdigkeit
Als ich Li das nächste Mal sah, trug er eine Uniform wie die
von Captain Kirk in Star Trek.
»Na, wen haben wir denn da, um alles in der Welt?« Ich
lachte.
»Spotten Sie nicht, Fremdweltlerin!« Li zog eine
finstere Grimasse.
Ich las den Faust auf deutsch und sah zwischendurch zwei
meiner Freunde zu, die Billard spielten. Die Schwerkraft im
Billardraum war etwas geringer als normal, damit die Kugeln gut
rollten. Ich hatte das Schiff gefragt (als es noch mit mir redete),
warum es die Gravitation im Innern nicht auf Erd-Durchschnitt gesenkt
hatte, so wie es sich mit seinem Tag-Nacht-Kreislauf angepaßt
hatte. »Oh, das hätte einer allzu genauen Kalibrierung
bedurft«, hatte das Schiff erwidert. »Ich hatte keine Lust,
mir diese Mühe zu machen.« Und so etwas von einer
gottgleichen Allmacht!
»Vermutlich ist es dir noch nicht zu Ohren gekommen«,
sagte Li und setzte sich neben mich, »da du die ganze Zeit auf
EVA warst, aber ich habe die Absicht, Captain dieser Maschine zu
werden.«
»Tatsächlich? Nun, das ist großartig.« Ich
fragte ihn nicht, was zum Teufel EVA sein sollte. »Und welches
sind deine genauen Pläne zur Erreichung dieser gehobenen,
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