Kultur 08: Der Algebraist
Kriegszone zu sichern. Allerdings erst nach
einem kurzen Suborb-Flug in einer an sich nur für Frachten
zugelassenen ›Mondschale‹, die in einer
Magnetpulsröhre von Hoch-Tolimundarni nach Lopscotte geschossen
wurde. (Auch hierbei konnte ihnen Cousin Bindiche mit seinen
unendlich wertvollen Verbindungen zum Militär behilflich sein;
der elende Spross eines verhassten Onkels speicherte Y’suls
widerwillig gespendetes Kudos wie die mächtigen Kondensatoren
der Sturmschere elektrische Ladung). Sie rasten über die
oberste Wolkenschicht und verbrachten auch eine kurze Zeit im Weltall
(ohne etwas davon wahrzunehmen, da es weder Fenster noch einen
Bildschirm gab). Y’sul klagte die ganze Zeit, entweder über
die unglaublich katerähnlichen Nachwirkungen der heftigen
Beschleunigung in der Röhre oder darüber, dass er den
größten Teil seines Gepäcks hatte zurücklassen
müssen, einschließlich all der Kriegsgeschenke von seinen
Freunden und fast das ganze neue Kampfoutfit, das er sich hatte
anfertigen lassen.
Der Propellerstrom heulte und kreischte. Seher und Colonel sahen
den Sklavenkindern bei ihren Reparaturversuchen zu. Fassin kamen die
Dweller-Jungen, die sich um die Enden der riesigen Rotorflügel
drängten, wie ein Schwarm von besonders hartnäckigen
Fliegen an einem Deckenventilator vor.
Dweller-kinder wuchsen im Allgemeinen wie wilde Tiere und ohne
jede Liebe auf. Als Mensch musste man fast den Eindruck gewinnen, es
liege in der Natur erwachsener Dweller, ihre Jungen am laufenden Band
zu misshandeln, und man hätte eigentlich die Pflicht, die
Dweller-kinder von ihrem grausamen Schicksal zu erlösen.
In diesem Augenblick ertönte ein schriller Angstschrei, und
ein weiteres kind wurde von einem der Riesenflügel geschleudert.
Dieser Unglückswurm verfehlte das Schutzgehäuse, knallte
aber gegen ein Hochspannungskabel und wurde fast entzwei geschnitten.
Ein Dweller kämpfte sich mit seiner Jolle durch den Sog, bis er
auf gleiche Höhe mit dem zerschmetterten Körperchen war,
und nahm ihm den Schweißbrenner ab. Dann ließ er es
fallen. Es versank im Nebel wie ein welkes Blatt.
Dweller gaben ganz unbefangen zu, dass ihnen an ihren Kindern
nichts lag. Sie hielten nicht viel von Weiblichkeit und
Schwangerschaft und ließen sich nur darauf ein, weil man es von
ihnen erwartete, weil es Kudos einbrachte und weil es bedeutete, in
irgendeinem Sinn seine Pflicht erfüllt zu haben. Die
Vorstellung, sich darüber hinaus womöglich auch noch um die
Gören kümmern zu müssen, hielten sie einfach für
lächerlich. Schließlich waren sie selbst in ihrer Jugend
aus dem Haus geworfen worden und hatten heimatlos umherirren und sich
mit organisierten Jagden, Jugendbanden und spezialisierten einsamen
Jägern herumschlagen müssen. Warum sollte es der
nächsten Generation besser ergehen? Die kleinen Mistkerle hatten
eine Lebenserwartung von Milliarden von Jahren. Was war dagegen ein
Jahrhundert, in dem die Schwachen ausgemerzt wurden?
Die meisten Dweller hätten die Sklavenkinder, die für
die Reparaturen am beschädigten Propeller der Sturmschere eingesetzt wurden, als wahre Glückspilze betrachtet. Gewiss,
sie lebten in Gefangenschaft und wurden zu unangenehmen und/oder
gefährlichen Arbeiten gezwungen, aber sie waren immerhin
halbwegs in Sicherheit, wurden nicht gejagt und bekamen ausreichend
zu essen.
Fassin fragte sich, wie viele von den kindern da unten wohl das
Erwachsenenalter erleben würden. Würde eines dieser
mageren, zitternden Dreiecke in Milliarden von Jahren als uralter,
hoch geachteter Weiser enden? Komisch war nur eines: selbst wenn man
diesen Ausgang mit Sicherheit vorhersagen könnte, sie
würden es nicht glauben. Kein einziges Dweller-kind hielt es
auch nur einen Augenblick, auch nur als Arbeitshypothese oder als
Diskussionsgrundlage für möglich, dass es je, je, jemals zu
einem dieser riesigen, bösartigen, schrecklichen
Doppelscheibenwesen heranwachsen würde, von denen sie gejagt und
getötet wurden, die sie gefangen hielten und ihnen auf ihren
großen Schiffen die schrecklichsten Arbeiten
aufbürdeten.
- Seher Taak?
- Ja, Colonel?
Sie waren wieder zu ihrer Privatkommunikation mit polarisiertem
Licht zurückgekehrt, damit möglichst niemand mithören
konnte. Schon als der Colonel vorgeschlagen hatte, hier
heraufzukommen, hatte Fassin vermutet, dass sie ihm etwas
Vertrauliches mitzuteilen hatte. Ein normales Gespräch wäre
auf der offenen Brücke beim Kreischen des Propellerstroms und
dem
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