Kunst des Feldspiels
selbst das Beste zum
Vorschein bringen. Abgehakt: Da konnte es nur einen geben. Er war nun
auf dem Weg, ein richtiger Baseballspieler zu werden.
Bis zum Saisonbeginn
seines zweiten Jahrs hatte Henry fast fünfeinhalb Kilo zugelegt. Er gehörte
noch immer zu den Kleineren im Team, aber der Schläger lag anders in seinen
Händen, leichter und lebendiger. Seine Effektivitätsrate lag bei 34,8 Prozent, und er wurde als Stammspieler
in den Auswahlkader der Upper Midwestern Small Colleges Athletic Conference
berufen. In einunddreißig Spielen unterlief ihm nicht ein einziger Fehler. In
den Vorlesungen und auf dem Campus war er noch immer schüchtern – er ging nie
in Bars und nur selten auf Partys, es gab so viel zu tun –, aber im Kreise
seiner Teamkollegen blühte er auf. Er liebte diese Jungs und fühlte sich wohl
in ihrer Mitte, und jetzt, wo er unwidersprochen der beste Spieler der
Mannschaft war, wurde er zu einer Art Anführer. Er brüllte nicht herum wie
Schwartz, aber wenn er etwas sagte, hörten alle zu. Zum ersten Mal seit zehn
Jahren schlossen die Harpooners die Saison mit einer 50-Prozent-Quote ab.
In diesem Sommer
strengte er sich, vom Erfolg beflügelt, umso mehr an. Statt um halb sechs stand
er um fünf auf. Statt fünf Mahlzeiten nahm er sechs zu sich. Sein Geist fühlte
sich klar und rein an. Der Ball schoss von seinem Schläger wie eine Rakete. Er
begann bestimmte Passagen aus Die Kunst des Feldspiels auf ganz neue Art zu begreifen, von innen heraus, als wäre der große Aparicio
weniger ein Orakel als vielmehr ein Ebenbürtiger.
Auch Henry bekam einen
Schützling – Izzy Avila, ein Spieler, den Schwartz in seinem alten Viertel im
Süden Chicagos rekrutiert hatte. Schwartz liebte Westish, und seinen
Herkunftsort liebte und hasste er zugleich und wollte deshalb Leuten helfen,
den Weg von dort hierher zu schaffen. Izzy war da der perfekte Kandidat, ein
begabter Sportler und passabler Student, der nichtsdestoweniger Hilfe brauchte.
Seine beiden älteren Brüder waren ebenfalls begabte Sportler gewesen – jetzt
lebte der eine bei der Mutter, während der andere im Gefängnis saß. »Er ist ein
bisschen ungehobelt«, sagte Schwartz. »Dieses Jahr kann er auf der Bank
verbringen, ein paar Dinge lernen. Dann kann er nächstes Jahr nach Ajays Abgang
Second Base spielen. Und wenn du weg bist, ist er der neue Shortstop.«
Izzy fürchtete und
respektierte Schwartz, Henry aber vergötterte er. Wenn sie ihre täglichen
Aufsetzer trainierten, versuchte er jede seiner Bewegungen zu kopieren. Wenn
Henry über die Feinheiten der Positionierung im Innenfeld referierte, verstand
ihn Izzy im Gegensatz zum Rest der Harpooners. Verstand er ihn nicht, klemmte
er sich dahinter, bis er es tat. Sie übten schnelles Weiterleiten des Balls,
das Passen bei Rundowns, das Abtropfenlassen des Balls, angetäuschte Würfe und
das Zuspiel bei Pickoffs und Double Plays. Zum Geburtstag kaufte Henry ihm ein
Exemplar von Die Kunst des Feldspiels .
Aber Izzy war weder
mental noch körperlich bereit für Henrys eigenes Training. Henry trainierte
Schnelligkeit mit Starblind, dem Schnellsten im Team. Er trainierte Kraft mit
Schwartz, dem Stärksten. Wenn die beiden nach Hause gingen, ging er mit Owen
zum Yoga. Danach trainierte er weiter. Im Kopf brachte er Aufsetzer unter
Kontrolle, bis er einschlief. Um fünf stand er wieder auf und fing von vorn an.
Zu Saisonbeginn seines
dritten Jahrs war er zu etwas geworden, das es am Westish College noch nie
zuvor gegeben hatte: einem vielversprechendes Talent. Im zweiten Spiel der
Florida-Reise schlug er einen Home Run, im vierten einen weiteren und im
sechsten einen dritten. Zu diesem Zeitpunkt drückten sich längst die Scouts mit
ihren Ray-Ban-Sonnenbrillen hinter dem Ballfang herum. Außerdem kamen Fans zu
den Spielen, örtliche Baseball-Liebhaber, die von dem Jungen mit dem
Wunderhandschuh gehört hatten, den man sich unbedingt ansehen sollte. Binnen
Wochenfrist standen zehn Siege und zwei Niederlagen zu Buche, lag Henrys
Effektivitätsrate bei 51,9 Prozent, und ihm fehlte nur noch ein
einziges Spiel, um Aparicio Rodriguez’ Hochschulsportverbands-Rekord über die
meisten aufeinanderfolgenden Spiele ohne Fehler einzustellen.
6
–
Im Frühjahr 1880 arbeitete Herman Melville, damals sechzig
Jahre alt, als Zollinspektor im Hafen von New York, nachdem er es nicht
geschafft hatte, seine Familie durch die Schriftstellerei allein zu ernähren.
Er war weitgehend unbekannt und hatte kaum
Weitere Kostenlose Bücher