Kunst des Feldspiels
er die dürre Erklärung »Shakespeare ist Leben«
voranschickte, den Dichter als Vorwand, um über alles zu sprechen, was ihm in
den Sinn kam – Tahiti, den Wiederaufbau des Südens nach dem Bürgerkrieg, seine
Reise den Hudson hinauf, Webster, Hawthorne, Michigan, Salomo, Ehe und
Scheidung, Melancholie, Ehrfurcht, Arbeitsbedingungen in Fabriken, das
Herbstlaub in Pittsfield, Freundschaft, Armut, Fischsuppe, Krieg, Tod – und das
alles mit einer zerstreuten, ungeordneten Wildheit, die wohl wenig dazu
beigetragen hätte, die Unterstellung seiner angeheirateten Verwandtschaft, er
sei geistig labil, zu widerlegen. Je tiefer Affenlight in die Lektüre versank –
in seinem Wohnheimzimmer vor jeglicher Ablenkung versteckt, die ihn aus seiner
merkwürdigen Stimmung hätte reißen können –, desto überzeugter war er, dass sie
wohl ex tempore gehalten worden sein musste, ohne eine einzige Notiz. Dass ein Geist genug
Reichtum ansammeln konnte, um jede kleinste seiner Regungen tiefgründig
erscheinen zu lassen, erstaunte Affenlight und machte ihn demütig.
Am nächsten Tag verließ
Affenlight sein Zimmer und machte sich auf die Suche nach einem entsprechenden
Fachmann. Professor Cary Oxtin, am College Experte für das Amerika des 19. Jahrhunderts, sah die Seiten in Affenlights Anwesenheit langsam
und sorgfältig durch, während er sich mit seinem Stift gegen das Kinn klopfte.
Als er fertig war, erklärte Oxtin, es sei unverkennbar Melvilles Stil, jedoch
nicht seine Handschrift. Die Vorlesung musste – und wer wusste, wie verlässlich
– von einem aufmerksamen Zuhörer transkribiert worden sein. Er fügte hinzu,
dass Melville um 1880 in der öffentlichen Wahrnehmung kaum
mehr als ein Reiseschriftsteller gewesen war, der seinen Zenit bereits
überschritten hatte, weshalb man nicht ausschließen konnte, dass seine Vorlesung
falsch einsortiert und sein Besuch am Westish College von der Geschichte
unbemerkt vonstatten gegangen war.
Affenlight ließ die
Seiten bei Professor Oxtin, der Kopien in Richtung Osten sandte, an die Zähler
und Sammler dieser Dinge. Auf diesem Weg gelangten sie in die
wissenschaftlichen Annalen. Ein paar Monate später veröffentlichte Oxtin im Atlantic Monthly einen langen Essay über Melvilles Reise in
den Mittleren Westen – in dem Affenlights Name allerdings nicht auftauchte.
Am Ende jener trostlosen
’69er-Saison – die Sugar Maples hatten nur
ein einziges Spiel gewonnen – gab Affenlight seinen Helm zurück. Football hatte
der Zerstreuung gedient, jetzt aber hatte er ein Ziel, und das Ziel hieß lesen.
Um die Hauptfächer zu wechseln war es zu spät, aber jeden Abend, wenn er mit
seinen Übungsblättern durch war, widmete er sich den Werken H. Melvilles.
Er fing am Anfang an, bei Taipi , und las sich
hindurch bis zu Billy Budd . Dann die Biographien, die
Briefwechsel und die kritischen Schriften. Nachdem er jedes in der Bibliothek
von Westish verfügbare Wort von und über Melville aufgesogen hatte, begann er
mit Hawthorne, dem Moby-Dick einst gewidmet worden
war. Irgendwann während der Lektüre hörte er auch auf, sich zu rasieren – es
war der Beginn der ’70er, und viele seiner Klassenkameraden
trugen Bärte. Affenlight aber betrachtete den eigenen als etwas anderes: Seiner
war kein Hippie-Bart, sondern ein altertümlicher, schriftstellerhafter Bart,
wie er die verblichenen Daguerreotypien in den Büchern zierte, die er mehr und
mehr liebte.
Außerdem hatte er sich,
gleich in den ersten Tagen auf dem Campus, in den Michigansee verliebt – ihn,
der auf einem rundum von Äckern umgebenen Hof aufgewachsen war, faszinierte
neben der schieren Größe die Kombination aus Beständigkeit und konstanter
Veränderung. Am Ufer des Sees entlangzuspazieren rief ähnlich tiefe Gefühle
hervor wie seine Melville-Lektüre, und die Lektüre wiederum erklärte und
vertiefte seine Liebe zum Wasser, was wiederum die zu den Büchern vertiefte. Er
fasste den Entschluss, zur See zu fahren. Nach dem Abschluss konnte er genügend
Kenntnisse der Meeresbiologie nachweisen, um zumindest einen nahezu unbezahlten
Job – ein Praktikum, wie man heute sagen würde – an Bord eines Schiffes der
Regierung zu ergattern, das Kurs in Richtung Südpazifik nahm. Während der
nächsten vier Jahre sah er so manches von der Welt, zumindest den wässerigen
Teil, und begriff, wie treffend Melville die bewegte Monotonie eines Lebens
unter Segeln eingefangen hatte. Nachts stand er alle drei Stunden auf und hielt
Daten
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