Kunst des Feldspiels
hinterhältig, affektiert. Aber nur in der Rückschau.
Damals hatte ich bloß Augen für den Charme und die Kultiviertheit, die dunkel
blitzenden Augen über dem braunen Bart, die immense Bildung. Und noch mehr
beeindruckte mich seine Tugendhaftigkeit. Er war ein Mann, der nach einem Kodex
lebte. Er hielt klassische Bildung für wichtig und war deshalb ein
erstklassiger Intellektueller der alten Schule geworden, auch wenn ihm das in
seiner beruflichen Praxis nicht direkt weiterhalf. Was wiederum selbst ein
Beispiel an Tugendhaftigkeit war: der Versuch, im klassischen Sinne schöne
Gebäude zu entwerfen, die auch noch, nun ja, ökologisch waren. Er war kein
Mann, der Fernsehen guckte, ins Fitness-Studio ging, Zeit vergeudete. Er aß
kein Fleisch und trank nur, um mit seinem Fachwissen über Wein anzugeben.
Ich folgte jeder seiner
Bewegungen, während er seine nachmittäglichen Vorlesungen hielt oder anlässlich
irgendwelcher Mittagsrunden oder Dinners, bei denen ich es immer irgendwie auf
die Gästeliste schaffte, große Reden schwang. Es war ganz eindeutig mein Vaterkomplex,
der sich da meldete, sogar in stärkerem Maße als sonst. Er besaß die drei
Eigenschaften, die ich am intensivsten mit meinem Vater verband – gebildet,
tugendhaft und von mir aus dem Konzept gebracht –, und er zeigte sie alle
wesentlich offensichtlicher, um nicht zu sagen prätentiöser, als mein Dad es je
getan hatte. Mein Dad war cool. David war ihm ähnlich, aber völlig uncool.
Eines der Tellman-Rose-Mädchen, nicht meine Hauptrivalin, aber diejenige, die
ich am meisten fürchtete, weil sie genauso schlau war wie ich, gab mir den
Namen Pellektra. Dagegen war nichts zu sagen, es passte einfach zu gut und war
auch überhaupt nicht böse gemeint. Man ist nur einmal
C. G. Jung, antwortete ich. Man sollte es
genießen.
Wegen Davids
Tugendhaftigkeit, seines tugendhaften Selbstbildes, musste ich die Rolle der
Verführerin übernehmen. Was ich tat – ein Projekt, das in der Nacht vor seiner
Abreise seinen Höhepunkt erreichte. Es fühlte sich an, als hätte ich ihn
entjungfert, nicht weil er sich im Vergleich zu anderen Männern ungeschickt
anstellte – er war, wie gesagt, einunddreißig –, sondern weil er die Fassade
der Tugendhaftigkeit bis zum Allerletzten aufrechterhielt. Wie
wahnsinnig steif du bist, sagte ich, bevor wir uns küssten – meine
letzte und beste Doppeldeutigkeit in jener Nacht.
Eine Woche später
begannen die Frühlingsferien. Ich war gerade erst in Yale angekommen. Meine
Freunde und ich waren auf dem Weg nach Jamaika zum Feiern. Wir standen in
Burlington am Flughafen und hatten bereits angefangen zu trinken. David kam
herein. Über der Schulter eine Reisetasche, in der Hand zwei Tickets nach Rom. Können wir?, sagte er. Er schwitzte, führte irgendetwas im
Schilde, trug einen Rollkragenpullover unter der Jacke und wartete ängstlich
auf meine Antwort – total uncool.
Ich hatte eine Woche
Ferien, aber wir blieben drei Wochen in Rom. Danach flogen wir nach San
Francisco, wo sich Davids aktuelles Projekt befand. Ich fühlte mich beschwingt,
so als hätte ich Yale und damit das frühe Erwachsenenalter übersprungen und
wäre direkt ins richtige Leben entlassen worden. Wenn ich mir diese ersten
Wochen mit David inmitten der zerbröckelnden Bauten Roms ins Gedächtnis rufe,
Wochen, in denen ich mir auf eine köstliche Weise älter als alt vorkam,
berauscht von der eigenen Ernsthaftigkeit, ist es womöglich kein Zufall, dass
ich bei der Beschreibung meines Lebens um das Wort ruiniert nicht herumkomme.
Pella leerte gemäß den
Anweisungen ihren Whiskey und stellte ihre Sitzlehne aufrecht. Gut, diesen Teil konnte man wie eine Kurzgeschichte erzählen,
wie eine Fingerübung für den Schreibkurs, konnte sogar einen blumigen
Schlusssatz dranklatschen, um die Leute bei der Stange zu halten. Aber nur,
weil es nicht die eigentliche Geschichte war. Womit sie sagen wollte, dass sie
keine Antworten auf die Fragen lieferte, vor denen Pella am meisten Angst
hatte: Wer bist du? Was machst du? Okay, was willst du mal machen?
Nein, denn die letzten
vier Jahre – und besonders die letzten zwei – waren wie ein Traum an ihr
vorübergezogen, und von Träumen wollte niemand etwas wissen. Sie hatte gar
nichts gemacht. Irgendwann hatte sie begriffen, dass die Ehe ein Fehler war,
war aber nicht in der Lage gewesen, sich das einzugestehen. Denn sie hatte die
Ursache ihres Kummers vollständig ausgeblendet, und das war rein zufällig
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