Kunst des Feldspiels
ihr
komplettes Leben. Infolgedessen hatte sie schwere Depressionen entwickelt, was
David nicht gestört hatte, denn mit schweren Depressionen war sie von ihm
abhängig, und es war wenig wahrscheinlich, dass sie ihn für jemanden in ihrem
Alter verlassen würde, was stets seine größte Sorge war.
Und so waren die Monate
verstrichen, hatte Pella in ihrem gemeinsamen sonnendurchfluteten Loft im Bett
gelegen, sich zur Apotheke und zum Psychiater und wieder zurück geschleppt,
während David die Lethargie abwechselnd als Ärgernis und als Aufgabe
betrachtete. Sie besuchten Veranstaltungen, sie stritten, sie machten Ausflüge,
aber nichts davon hatte Bedeutung, nichts davon durchdrang die dicke
Nebelschicht, unter der sie lebte. In Rom habe ich mein
Leben ruiniert und in San Francisco im Nebel gelebt. Ihr Sexleben
erstarb langsam, und keiner von beiden sprach es an. »Ihnen« ging es gut. Sie
musste sich erholen. Wieso stand das eine und nicht das andere in
Anführungszeichen? David verordnete ihr Schlafkuren: kein Koffein, kein
Fernsehen, kein elektrisches Licht. Jeden Abend legte sie sich neben ihn ins
Bett, um aufzustehen, sobald sein Atemrhythmus sich veränderte, in die Küche zu
gehen und ihre Nachtwache anzutreten, bei der sie langsam Whiskey trank,
Sonnenblumenkerne kaute und die unsäglich quälende Langeweile erduldete, die es
bedeutete, am Leben zu sein.
Schließlich kam es, wie
es kommen musste: Sie wurde mit Herzrasen ins Krankenhaus eingeliefert,
verursacht von dem Medikamente-Mix, den sie einnahm – rezeptfreie Schlaftabletten,
Angsthemmer, verschreibungspflichtige Schmerzmittel, und das alles in nahezu
wahllosen Kombinationen, zusätzlich zu dem Whiskey und den Antidepressiva. Im
Krankenhaus stand sie wegen Suizidgefahr unter Beobachtung. Sie hatte es nicht
tatsächlich versucht, was sich jetzt, wo sie sich ein klein wenig besser
fühlte, so leicht dahinsagte. Gedanken an den Tod waren schon immer untrennbar
mit Gedanken an ihre Mutter verbunden gewesen; ein Gefühlsgewirr, das zu
ungefähr gleichen Teilen aus Schmerz, Lust, Angst und Trost bestand. »Es sind
die Männer, die bei den Affenlights früh sterben«, hatte ihr Vater vor langer
Zeit einmal gesagt, in dem grotesken Versuch, die neun- oder zehnjährige
Tochter zu beruhigen, mit der er nie so recht etwas hatte anfangen können. »Die
Frauen leben ewig.« Auch wenn gewisse historische Fälle das belegten, konnte
sie nicht glauben, dass es auf sie oder, Gott bewahre, ihn zutraf. Es war
schwierig, ihren Vater nicht für unsterblich und den eigenen Platz auf Erden
nicht für sicher zu halten.
Nicht lange nach der
Krankenhausepisode gab man ihr ein neues, noch in der Testphase befindliches
Antidepressivum – eine winzige himmelblaue Pille, die Alumina hieß, was wohl
auf das Licht anspielen sollte, das sie ins Leben der Patienten bringen würde,
wenngleich Pella stattdessen immer Alumna las und es
als abfälligen Kommentar zu ihrem Highschool-Abbruch interpretierte. Sie
übermalte das Etikett und nannte sie ihre himmelblaue Pille. Aber sie wirkte,
wirkte besser als alles andere zuvor. Pella begann wieder zu lesen. Sie fühlte
sich etwas besser, war wieder in der Lage, sich Gedanken über ihr Leben zu
machen. Jetzt kam es ihr eigenartig vor, mit welcher Frühreife sie an ihren
ambitionierten, finanziell privilegierten Altersgenossen vorbeigezogen war,
indem sie exakt das getan hatte, wozu die Unambitionierten, finanziell
Unterprivilegierten in ihrem Alter neigten: heiraten, zu Hause bleiben, einen
Haushalt führen. Sie war so schnell vorgeprescht, dass es sie aus der Kurve
getragen hatte und sie nun weit hinter den anderen zurücklag.
In den letzten Monaten
waren ihre Panikattacken seltener und kürzer geworden. Wenn David eingeschlafen
war, nahm sie ihre Decke und ging mit einer Taschenlampe hinaus auf die mit
Pflanzen vollgestellte Terrasse, setzte sich in einen Gartenstuhl und las die
ganze kühle San-Francisco-Nacht hindurch, während die Innenstadt und die
Brücken in der Ferne glitzerten. Sie spürte, wie ihre Kräfte zurückkehrten, sie
dabei war, sich auf irgendein Manöver vorzubereiten, auch wenn sie nicht
wusste, was es war. Dann ertappte sie sich an einem Dienstag um fünf Uhr
morgens – David war geschäftlich in Seattle – dabei, wie sie die Nummer ihres
Vaters wählte. Seit sie David begegnet war, hatte sie ihn nicht mehr gesehen
und seit Weihnachten nicht mit ihm gesprochen.
Als das Flugzeug zum
Landeanflug ansetzte, biss Pella
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