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Kunst des Feldspiels

Kunst des Feldspiels

Titel: Kunst des Feldspiels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Harbach
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Mann beugte
er sich langsam nach vorn, um Hose, Stiefel und Socken auszuziehen. Der
Betonboden, der zu den zerkratzten Abflüssen hin leicht abfiel, fühlte sich mit
seinen unzähligen Farbschichten glatt unter den Füßen an.
    Umkleideräume waren
Schwartz’ Erfahrung nach immer unterirdisch, wie Luftschutzbunker. Dies war
weniger einer strukturellen als vielmehr einer symbolischen Notwendigkeit
geschuldet. Der Umkleideraum beschützte einen, wenn man am verletzlichsten war:
unmittelbar vor einem Spiel und unmittelbar danach. (Und nach der ersten
Spielhälfte, falls Football gespielt wurde.) Vor dem Spiel legte man die
Uniform ab, in der man es mit der Welt aufnahm, und legte jene an, in der man
dem Kontrahenten entgegentrat. Dazwischen war man in jeglicher Hinsicht nackt.
Danach konnte man die Emotionen des Spiels nicht einfach mit in die Welt hinaus
nehmen – dafür wäre man umgehend in die Anstalt gewandert –, also ging man
unter die Erde und reagierte sich dort ab. Man brüllte herum, schmiss mit
Sachen und prügelte auf seinen Spind ein, vor Wut oder vor Freude. Man umarmte
seinen Teamkollegen, machte ihn zur Schnecke oder stopfte ihm das Maul. Was
auch immer geschah, der Umkleideraum war und blieb ein Ort der Zuflucht.
    Schwartz wand sich das
Handtuch um die Hüften, ertastete den Brief – er sandte Wellen in die
Dunkelheit – und machte sich auf den Weg zwischen den Spinden und Bänken
hindurch zum Whirlpool. Er betätigte einen Schalter, und eine nackte Glühbirne,
die an einer Strippe hing, warf flackerndes, staubiges Licht in den Raum.
Eigentlich bevorzugte er im Whirlpool absolute Dunkelheit, nun aber musste er
seinem Schicksal ins Auge blicken können. Er betätigte noch einen Schalter.
Nach einem Moment erzitterte und stöhnte der Whirlpool widerwillig, und das
Wasser begann zu brodeln, was einen flauen Chlorgeruch freisetzte.
    Er ließ sein Handtuch
fallen, kletterte vorsichtig ins Becken und positionierte seinen unteren Rücken
vor dem Strahl einer Düse. Sein Brusthaar wogte hin und her wie Teile der
Meeresflora, die dem Licht zustreben. Was dieser Universität wirklich fehlte,
dachte er, war eine Ganztagsmasseurin. Er gestattete sich, sie sich kurz
auszumalen: Ihre erbarmungslosen Hände sondierten seine Nackenmuskeln, ihr Atem
flatterte warm in seinem Ohr, und durch den dünnen Stoff ihrer Bluse drückte
sich eine Brustwarze, womöglich absichtlich, gegen sein Schulterblatt. Die
Fantasie führte zu nichts. Sein Penis schlief unter Wasser einfach weiter,
eingerollt wie eine kleine braune Schlange.
    Als er das nächste Mal
auf die Uhr sah, zeigte sie 3:09 an. Er ließ sie
gern zweiundvierzig Minuten vorgehen – eine leicht irrationale Angewohnheit, so
wie die, im Whirlpool eine Uhr zu tragen –, was bedeutete, es war jetzt fast
halb drei. Falls er vor Sonnenaufgang noch ein paar Stunden lang etwas schaffen
wollte, musste er jetzt hinaufgehen, einen Priem einlegen und anfangen zu
schreiben. Hitze und Luftfeuchtigkeit lösten den Kleber des Umschlags auf, er
brauchte bloß die Lasche aufzuklappen und hineinzusehen. Stattdessen lehnte er
sich aus dem Becken und schaltete das alte, mit Farbspritzern übersäte Radio
an, das auf dem angeknacksten Fliesenboden stand. Er sank ins Wasser zurück und
hörte Classic Rock, während die Ecken des Umschlags aufweichten und sich
einrollten.
    Ist doch keine große
Sache, dachte er. Wenn es nichts wird, gibt es ja immer noch nächstes Jahr. Auf
lange Sicht bedeutet ein Jahr überhaupt nichts. Du gehst zurück nach Chicago,
arbeitest als Anwaltsgehilfe und Schöffe am Bezirksgericht. Klar, du hast jetzt
zwei ganze Jahre für den Zulassungstest gepaukt, aber mehr pauken kann man
immer. Du kratzt dir das Geld für den Vorbereitungskurs für Bonzenkinder
zusammen und peitschst das Ding einfach durch. Und am Ende wirst du als Sieger
dastehen, weil du dich schlicht weigerst zu verlieren. Denn du bist Mike
Schwartz.
    Aber genau das war das
Problem: Er war Mike Schwartz. Jeder erwartete von ihm Erfolg, egal auf welchem
Gebiet, und deshalb kam Versagen, selbst vorübergehendes Versagen, irgendwann
einfach nicht mehr in Frage. Niemand hätte dafür Verständnis, nicht einmal
Henry. Henry am allerwenigsten. Der Mythos, der das Fundament ihrer
Freundschaft bildete – der Mythos seiner eigenen Unfehlbarkeit –, läge in
Trümmern.
    »Der April macht
offenbar, was er will«, sagte der Herrgottsfrühe-Moderator. »Derzeit heftige
Schneefälle in den Counties Ogfield

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