Kunst des klaren Denkens
anders – sie belohnt scharfes Nachdenken gegenüber Aktivität. Die Umstellung fällt uns schwer.
Sie erhalten keine Ehrung, keine Medaille, keine Statue mit Ihrem Namen drauf, wenn Sie durch Abwarten genau die richtige Entscheidung treffen – für das Wohl der Firma, des Staates, der Menschheit. Haben Sie hingegen Entschlossenheit demonstriert, rasch gehandelt, und eine Situation hat sich verbessert (wenn auch vielleicht rein zufällig) – dann stehen die Chancen nicht schlecht, dass Sie auf dem Dorfplatz geehrt werden oder zumindest Mitarbeiter des Jahres werden. Die Gesellschaft zieht gedankenloses Handeln dem sinnvollen Abwarten vor.
Fazit: In unklaren Situationen verspüren wir den Impuls, etwas zu tun, irgendetwas – egal ob es hilft oder nicht. Danach fühlen wir uns besser, selbst wenn sich nichts zum Besseren gewendet hat. Oft ist das Gegenteil der Fall. Kurzum, wir handeln tendenziell zu schnell und zu oft. Daher: Wenn die Situation unklar ist, unternehmen Sie nichts, gar nichts, bis Sie die Situation besser einschätzen können. Halten Sie sich zurück. »Das ganze Unglück der Menschen besteht darin, dass sie nicht in der Lage sind, ruhig in ihrem Zimmer zu bleiben«, schrieb schon Blaise Pascal. Zu Hause, in seiner Schreibstube.
THE OMISSION BIAS
Warum Sie entweder die Lösung sind – oder das Problem
Zwei Bergsteiger. Der erste fällt in eine Gletscherspalte. Sie könnten ihn retten, indem Sie Hilfe organisieren, tun es aber nicht, und folglich stirbt er. Den zweiten stoßen Sie aktiv in die Gletscherspalte. Auch er stirbt nach kurzer Zeit. Welche Tat wiegt schwerer? Rational betrachtet sind beide Taten gleich verwerflich. Die Unterlassung der Hilfe als auch der aktive Mord – sie führen beide zum Tod. Und doch sagt uns irgendein Gefühl, dass die Unterlassung weniger schlimm wiegt. Dieses Gefühl nennt man Omission Bias (deutsch: Unterlassungsirrtum). Der Omission Bias tritt immer dort auf, wo sowohl eine Unterlassung als auch eine Handlung zu Schaden führen können. Dann wird meist die Unterlassung gewählt, weil die so verursachten Schäden subjektiv harmloser scheinen.
Angenommen, Sie sind der Chef der Medikamentenzulassungsbehörde Ihres Landes. Sie stehen vor der Entscheidung, ob ein Medikament für Todkranke zugelassen werden soll. Das Medikament hat starke Nebeneffekte. Es tötet 20 % der Patienten auf der Stelle, rettet aber das Leben von 80 % in kurzer Frist. Wie entscheiden Sie?
Wenn Sie so ticken wie die meisten, verbieten Sie die Zulassung. Ein Medikament, das jeden Fünften auf derStelle hinrafft, empfinden Sie als schlimmer als die Tatsache, dass 80 % der Patienten, die hätten gerettet werden können, nun eben nicht gerettet werden. Eine absurde Entscheidung, aber im Einklang mit dem Omission Bias . Angenommen, Sie sind sich des Omission Bias bewusst und entschließen sich im Namen der Vernunft und der Moral dazu, das Medikament doch zuzulassen. Was passiert, wenn, wie vorausgesehen, der erste Patient daran stirbt? Ein Aufschrei geht durch die Presse, und Sie sind Ihren Job los. Als Beamter oder Politiker tun sie gut daran, den Omission Bias im Volk ernst zu nehmen – und selbst zu pflegen.
Wie fix diese »moralische Verzerrung« in unseren Köpfen festsitzt, zeigt die Rechtsprechung. Aktive Sterbehilfe, auch wenn sie dem ausdrücklichen Wunsch des Sterbenden entspricht, ist in Deutschland und in der Schweiz strafbar, während der vorsätzliche Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen straflos bleibt.
Der Omission Bias erklärt, warum Eltern manchmal zögern, ihre Kinder impfen zu lassen, obwohl die Impfung das Krankheitsrisiko nachweislich senkt. Objektiv betrachtet müsste man diese Eltern der aktiven Schädigung der Kinder bezichtigen, falls die Kinder dann tatsächlich erkranken. Aber eben: Vorsätzliche Unterlassung empfinden wir als weniger schlimm als eine verwerfliche, aktive Handlung.
Der Omission Bias erklärt, warum wir viel lieber jemanden ins Messer laufen lassen, als ihm direkt Schaden zuzufügen. Keine neuen Produkte zu entwickeln, empfinden Investoren und Wirtschaftsjournalisten als weniger schlimm, als falsche Produkte zu entwickeln, auch wennbeides zum Bankrott der Firma führt. Auf einem Bündel miserabler Aktien sitzen zu bleiben, die wir vor Jahren geerbt haben, empfinden wir als weniger schlimm, als die falschen Aktien gekauft zu haben. Keine Abgaswaschanlage in einem Kohlekraftwerk einzubauen, ist weniger schlimm, als die
Weitere Kostenlose Bücher