Kunst des klaren Denkens
nicht mehr ständig im Dunkeln tappen. Ja, schön wäre es, und in Ansätzen möglich. Hier die wenigen wissenschaftlich gesicherten Tipps: 1) Vermeiden Sie negative Effekte, an die man sich auch nach langer Zeit nicht gewöhnt: Pendelverkehr, Lärm, chronischen Stress. 2) Erwarten Sie nur einen kurzfristigen Effekt von materiellen Dingen – Autos, Häuser, Boni, Lottogewinne, Goldmedaillen. 3) Dauerhafte positive Effekte haben vorwiegend damit zu tun, wie Sie Ihre Zeit verbringen. Sorgen Sie für möglichst viel Freizeit und Autonomie. Tun Sie, was Ihrer Passion am nächsten kommt – auch wenn Sie einen Teil Ihres Einkommens einbüßen. Investieren Sie in Freundschaften. Bei Frauen haben Brustimplantate einen dauerhaften Happiness-Effekt, bei Männern ist es der berufliche Status – allerdings nur, solange der Mann nicht gleichzeitig die Vergleichsgruppe wechselt. Wenn Sie also zum CEO aufsteigen und sich dann nur noch mit anderen CEOs unterhalten, verpufft der Effekt.
THE SELF-SELECTION BIAS
Staunen Sie nicht, dass es Sie gibt
Unterwegs auf der A5 von Basel nach Frankfurt geriet ich in einen Stau. »Warum zum Teufel immer ich?«, fluchte ich und blickte auf die Gegenfahrbahn, wo die Autos mit beneidenswerter Geschwindigkeit südwärts zogen. Während ich eine Stunde lang im Schneckentempo zwischen Leerlauf und erstem Gang hin und her schaltete, und mein Knie vom Kuppeln müde wurde, fragte ich mich, ob ich wirklich so ein außergewöhnlich armer Kerl sei. Stehe ich tatsächlich meistens just an den Schaltern (Bank, Post, Einkaufsladen), wo es kaum vorwärtsgeht? Oder erliege ich einer Täuschung? Angenommen, zwischen Basel und Frankfurt entwickelt sich in 10 % aller Zeit ein Stau. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich an einem bestimmten Tag stecken bleibe, ist nicht größer als die Wahrscheinlichkeit, mit denen diese Staus eben auftreten, also 10 %. Die Wahrscheinlichkeit aber, dass ich zu einem bestimmten Zeitpunkt meiner Fahrt tatsächlich im Stau stecke, ist größer als 10 %. Der Grund: Weil ich mich im Stau nur kriechend fortbewege, verbringe ich überproportional viel Zeit im Stau. Hinzu kommt: Wenn der Verkehr zügig fließt, verschwende ich keine Gedanken darauf. In dem Moment, wo ich aber drinstecke, fällt mir der Stau auf.
Dasselbe gilt für das Schlangestehen vor Bankschaltern oder Rotlichtern: Wenn auf einer Strecke zwischen A und B zehn Rotlichter stehen, von denen im Durchschnitt eines auf Rot (10 %) und neun auf Grün sind, verbringen Sie, auf Ihre gesamte Fahrzeit gerechnet, mehr als 10 % vor dem Rotlicht. Unklar? Dann stellen Sie sich vor, Sie seien mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs. In diesem Fall stünden Sie zu 99,99 % Ihrer gesamten Reisezeit wartend und fluchend vor der einen roten Ampel.
Wann immer wir Teil der Stichprobe sind, müssen wir aufpassen, nicht auf einen Denkfehler reinzufallen, der als Self-Selection Bias bekannt ist (deutsch: Selbstselektionsfehler). Meine männlichen Bekannten beklagen oft die Tatsache, dass es in ihren Firmen so wenige Frauen gibt; meine weiblichen Bekannten, dass in ihren Firmen zu wenig Männer arbeiten. Mit Pech hat das nichts zu tun: Die Klagenden sind Teil der Stichprobe. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein beliebiger Mann in einer Branche mit Männerüberschuss arbeitet, ist eben hoch. Dito für Frauen. Im größeren Maßstab: Wohnen Sie in einem Land mit einem großen Männer- oder Frauenüberschuss (zum Beispiel in China beziehungsweise Russland), werden Sie mit größerer Wahrscheinlichkeit zum überschüssigen Geschlecht gehören und sich entsprechend ärgern. Bei Wahlen ist die Wahrscheinlichkeit am größten, dass Sie die größte Partei gewählt haben. Bei Abstimmungen ist die Wahrscheinlichkeit am höchsten, dass Ihre Stimme der siegenden Mehrheit entspricht.
Der Self-Selection Bias ist allgegenwärtig. Marketingverantwortliche stolpern oft in die Falle. Beispiel: Ein Newsletter-Verlag verschickt einen Fragebogen an seine Abonnenten mit dem Ziel, herauszufinden, wie wertvoll sie den Newsletter einschätzen. Leider erhalten nur Kunden diesen Fragebogen, die den Newsletter abonniert und noch nicht abbestellt haben – also hauptsächlich zufriedene Kunden (die anderen haben sich aus der Stichprobe verabschiedet). Resultat: Die Umfrage ist wertlos.
Oder: Vor nicht allzu langer Zeit bemerkte ein Freund voller Pathos, es grenze doch an ein Wunder, dass er – gerade er! – überhaupt existiere. Ein klassisches Opfer des
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