Kunstblut (German Edition)
den Hocker sinken. Die Pistole legte ich auf den aufgeschlagenen Noten von »La Source« ab, die immer noch auf dem Pult lagen. Etwas schwerfällig begann ich, eine ruhige Melodie zu improvisieren, sie klang ein bisschen nach Debussy. Meine Fingernägel waren einen Hauch zu lang geworden, wie ich dabei bemerkte. Während des Spiels dachte ich über meine nächsten Schritte nach, aber meine Fingernägel störten mich, besonders der des rechten Mittelfingers. Ich stand auf, um ihn im Bad abzufeilen. Der Schuss, der mich am linken Oberarm erwischte, hätte mich sonst in den Kopf getroffen.
Ich stürzte nach hinten. Während ich fiel, kam ein zweiter Schuss durch die offene Zimmertür; er fetzte in die Besaitung und verfehlte mich knapp. Die Harfe knackte und ließ ein dunkles Brummen hören. Obwohl mein Hinterkopf auf den Beistelltisch schlug, hörte ich den dritten Schuss in die Säule treffen. Das Geräusch ließ auf einen massiven Schaden in der Mechanik schließen, was mich ernsthaft wütend machte.
Ich raffte mich auf und hechtete nach vorn. Im Sprung griff ich die Kimber vom Notenständer, der mit mir gemeinsam in den Raum krachte und den nächsten Schuss abbekam. Ich robbte an die Wand hinter der Tür und trat sie zu. Aus dem Wohnraum hörte ich schnelle Schritte – ich hob die Pistole, aber sie entfernten sich. Ich sprang auf, zumindest versuchte ich es, aber es wurde eher ein unbeholfener Versuch, auf die Füße zu kommen. Mein Schädel brummte von dem Aufprall. Für eine Minute blieb ich hocken, bis meine Koordination halbwegs zurückkehrte. Die Wunde in meinem Arm pochte, blutete aber nur mäßig. Auch der Schmerz war einigermaßen erträglich. Die Kugel musste den Knochen verfehlt haben. Ich stand auf und verband meinen Oberarm mit einem der Schweißtücher neben dem Sandsack, dann lehnte mich an die Wand neben der Tür und öffnete sie. Von draußen kam keine Reaktion, aber ich konnte dem Frieden keineswegs trauen. Wer immer geschossen hatte, konnte noch nebenan sein, und dass er es ernst meinte, hatte er bewiesen.
Plötzlich klopfte jemand an der Wohnungstür.
»Jo, bist du da?«, rief eine Frauenstimme.
Ich hoffte, dass der andere genauso überrascht war wie ich, und drehte mich mit gehobener Waffe in die Tür.
Isabelle Schwarzenberger stand mir gegenüber, eine überdimensionierte Gucci-Handtasche unter den rechten Arm gepresst, und sah irritiert auf meine Waffe. Außer ihr konnte ich niemanden im Raum entdecken. Trotzdem sprang ich auf sie zu, schubste sie seitlich zu Boden und suchte selbst Deckung.
»Was soll das?«, fauchte sie.
»Später. Bleib jetzt liegen! Wie bist du hier reingekommen?«
»Die Tür war nur angelehnt.«
Ich robbte vorwärts zum nächsten Sessel und spähte nach meinem Gegner, doch hier im Wohnraum war er nicht. Ich sprang auf und öffnete aus der Deckung heraus alle Türen, aber die Wohnung war leer. Die Wohnungstür stand tatsächlich offen. Am Schloss ließ sich nichts finden, das auf eine Manipulation hindeutete. Ich warf einen Blick ins Treppenhaus. Das Fenster an der Treppe zum Dachboden stand offen. Ich steckte die Kimber in das Holster und ging zurück in den Wohnraum, wo Isabelle immer noch gehorsam auf dem Boden lag.
»Du kannst wieder aufstehen.«
»Was ist passiert? Was ist mit deinem Arm?« Sie zog sich an der Sofalehne in die Höhe.
»Er tut weh. Ist dir im Treppenhaus irgendwas aufgefallen?«
»Nein. Nur ein Mann … Irgendein Mann. Er kam eilig aus der Haustür, deswegen musste ich nicht klingeln. Ich hab ihn nicht näher angesehen. Er war groß.«
Ich ging die Wendeltreppe zum Büro hinauf. In das Velux-Fenster im WC war ein Loch geschnitten. Es stand offen.
Wieder unten in der Küche, schnitt ich mit einem Messer meinen Hemdsärmel auf. Isabelle kam aus dem Wohnzimmer herein.
»Du brauchst einen Arzt«, sagte sie, als sie die Wunde sah.
Ich zeigte auf eine Schranktür. »Da drin ist Verbandszeug. Es wäre schön, wenn du mir helfen könntest.«
Sie nahm das Päckchen heraus und wickelte eine Mullbinde um meinen Oberarm. Dann strich sie mit der Hand über meinen Hinterkopf. Ich zuckte zusammen. Als sie mir ihre Finger zeigte, waren sie voll Blut.
»Ich bring dich ins Krankenhaus«, sagte sie.
»Nein«, antwortete ich.
»Wer hat das getan?«
»Um das zu beantworten, hätte ich ihn erwischen müssen.«
Ich suchte überall nach meinem Handy, fand es aber erst auf dem Boden neben meiner Harfe. Mein Blick fiel auf mein altes Mädchen. Der
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