Kunstblut (German Edition)
einem modrigen Geruch ein, zusammen mit einer Duftnote, die sie nur zu gut kannte.
Der Hauch des Todes, dachte sie. Der Leichengeruch war viel schlimmer, als sie ihn in Erinnerung hatte. Hanna war bei Gerüchen besonders empfindlich. Im Raum hinter der Tür flackerten Scheinwerfer auf. Sehr viel Licht und ziemlich hell, das wunderte sie.
»Geht’s wieder?« Kürten erschien mit einer gleißenden Aura im Türrahmen.
»Ich habe … Platzangst«, gab Hanna als einfachste aller Erklärungen zur Antwort.
»Ehrlich? Das wusste ich nicht.«
»Du solltest mich mal in Fahrstühlen erleben«, sagte sie und lächelte schwach. »Oder in Heizöltanks.«
»Oh … äh, ja … verstehe.« Gegen das helle Licht hinter Kürten konnte Hanna nicht sehen, wie er von den Haarwurzeln bis zu den Fußspitzen errötete.
Natürlich, der Fall Steinberg, dachte er.
Hannas erste Ermittlung im neuen Job hatte sie bis in einen leeren alten Heizöltank gebracht. Kürten war zwar nicht dabei gewesen, wie Hanna einem alten Mann, der in diesen Tank gesperrt worden war, das Leben gerettet und sich selbst dabei in Lebensgefahr begeben hatte. Er konnte allerdings gut nachvollziehen, dass sie nach diesem Erlebnis enge, dunkle Räume mied. Und in genau so eine Situation hatte er sie gerade gebracht.
»Hör mal, es tut mir wirklich leid!«
Sie winkte ab. »Solange es sich nicht um einen Scherz, sondern um einen Job handelt.«
»Oh ja«, sagte er und brachte all seine Kraft auf, um die schwere Holztür weit genug aufzuschieben, damit Hanna sich ein Bild machen konnte. »Ein Job ist es wirklich.«
* * *
Der Leichnam lag auf dem Rücken. Die zottige Kopfbehaarung schien blond zu sein, soweit das unter dem Staub zu erkennen war. Sein kurzer Schnauzbart jedenfalls war es. Beide Arme lagen ausgestreckt auf dem Boden, und die Handflächen waren nach innen zur Körpermitte gerichtet. Die Beine waren ebenfalls ausgestreckt.
»Wie ist der hier heruntergekommen?«, fragte Hanna, als sie ein paar Schritte in den Raum gemacht hatte.
Die gleißende Beleuchtung konzentrierte sich auf den Körper am Boden. Sie ging in die Hocke.
»Ihr habt den Eingang doch gerade erst freigelegt, oder? Wie alt ist die Leiche überhaupt?« Hanna redete vor lauter Beklemmung schon wieder mehr als üblich. »Der sieht nicht aus wie eine Mumie. Ist das eine Jeans, die er da trägt? Eine Fünfnulleins von Levi’s? … Mann, ich muss schnellstens hier raus!«
Sie ging zu eilig aus der Hocke, sah erneut Sterne und taumelte zwei Schritte rückwärts. Kürten befand sich auf der anderen Seite der Leiche, daher konnte er Hanna nicht schnell genug zu Hilfe eilen, bevor sie in ein Regal knallte.
Eine Menge Staub und Mörtel rieselten auf sie hernieder, dann traf sie ein schweres, in Leder eingebundenes Buch an der Schulter, bevor es auf den Boden fiel und auseinanderbrach.
»Meine Güte, passen Sie doch auf!«, hörte Hanna eine vorwurfsvolle Männerstimme in feinem rheinischem Singsang.
Da ihr Kreislauf immer noch ein Feuerwerk in Schwarz-Weiß vor ihren Augen abfackelte, konnte sie den Entrüsteten nicht richtig erkennen. Sie machte einen Schritt zur Seite und trat auf das am Boden liegende Buch, stolperte und wäre fast gefallen. Doch dieses Mal war Kürten zur Stelle.
»Jetzt trampeln Sie nicht auch noch auf dem Folianten herum! Dieses Buch ist unersetzbar! Das ist eine Originalausgabe von Wilhelm Fabry!«
»Wer ist der Mann?«, stöhnte Hanna, als sie sich berappelt und endlich freie Sicht hatte. Der Mann trug einen hellen dreiteiligen Anzug mit Weste. Er wirkte in diesem Keller seltsam fehl am Platz.
»Wilhelm Fabry war ein Hildener Arzt aus dem sechzehnten Jahrhundert«, antwortete Kürten.
»Nein, nein, er war Chirurg«, fuhr der Anzugträger herrisch dazwischen. »Man bezeichnet Fabry heute sogar als den Mitbegründer der modernen Chirurgie.«
»Er war Arzt, sag ich doch«, beharrte Kürten.
»Aber er hat nie an einer Universität studiert und war nicht im Besitz einer Approbation. Damals wurde die Chirurgie als Handwerk betrachtet und der Zunft der Bader und Barbiere überlassen.«
»Operieren, rasieren und Haare schneiden?«, fragte Kürten.
»Wenn Sie so wollen, ja.« Der Mann im Anzug grinste nun heiter. »Während Fabrys Zeit praktizierten studierte Ärzte, die sich allerdings nur um innere Krankheiten der Bevölkerung kümmerten. Für die Versorgung von Wunden, für das Schröpfen, den Aderlass und Amputationen waren Chirurgen wie Wilhelm Fabry
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