Kunstgriff
blutjunge Ehefrau eines nassauischen Herzogs, die 1845 bei der Geburt ihres ersten Kindes starb und in einer nach orthodoxem Glauben geweihten Stätte liegen sollte wie die kleine Tochter, die nicht überlebte. Der trauernde Ehemann und Vater nutzte die Mitgift der Zarennichte, um das beeindruckende Grabmahl zu schaffen.
Das Grab des Malers, das er mit seiner Frau Helene teilte, fiel deutlich bescheidener aus: Ein weißes Marmorkreuz russischer Art mit drei Querriegeln, von denen der untere schräg verlief, wie die Abbildung in der Jawlensky-Biografie zeigte, die Norma sich gemeinsam mit Undine und Regert noch am Abend angesehen hatte. Der russische Friedhof lag nur wenige Schritte von der Kirche entfernt im Wald. Geschützt von einer Mauer und einem Eisentor, das – wie allseits bekannt – gewöhnlich verschlossen blieb. Zwischen der Kirche und dem Friedhof befand sich das Wohnhaus des orthodoxen Geistlichen, ein von Säulen geschmücktes Gebäude aus hellem Sandstein. Norma wäre gern zum Friedhof hinübergeschlendert, müsste sie nicht befürchten, vom Erpresser entdeckt zu werden, der dort vielleicht auf der Lauer lag.
Auf dem Vorplatz hielt die ›Thermine‹, die nostalgische kleine Lokomotive auf Rädern, und lud eine Besuchergruppe aus ihren Waggons. Norma mischte sich unter die Touristen, um im Innern der Kirche nach einem verdächtigen Gesicht Ausschau zu halten. Wieder im Freien, wurde sie von Regert in Empfang genommen, der wie vereinbart mit dem eigenen Wagen gekommen war. Er hatte darauf gedrängt, die Aktion zu begleiten. Undine sei auf dem Weg zum Friedhof. Ob er ihr nachgehen solle?
»Bleiben Sie hier«, verlangte Norma schroff.
In ihrer Hosentasche vibrierte das Handy. Das Display zeigte 17.52 Uhr an. Norma zog sich zur waldwärts gelegenen Fassade zurück, die abseits vom größten Trubel lag. Regert schlenderte hinterher.
»Wo bist du?«
»Vor der Friedhofsmauer«, flüsterte Undine mit leichter Verzweiflung. »Hier hängen mehr als zehn Informationstafeln. Jede Menge Text, viele Bilder. Woher soll ich wissen, welche gemeint ist?«
»Gibt es eine Tafel speziell über Jawlensky?«
»Augenblick! Hier, zwei Tafeln über die Geschichte der Russen in Wiesbaden.« Die raunende Stimme klang zunehmend ärgerlicher. »Ein ausführlicher Text über Alexej und ein Porträt. Daneben ein Foto vom Grabstein! Was soll mir das sagen?«
Norma behielt die Ruhe. »Kann man dort irgendwo eine Nachricht verstecken?«
»Vielleicht dahinter? Die Tafeln haben einen kleinen Abstand zur Mauer. Meine Finger passen dazwischen. Warte!«
Ein Klappern ließ darauf schließen, dass sie das Telefon irgendwo ablegte. Sie war ohne den Geldkoffer losgefahren. Ohne Beweis kein Geld, hatte Norma lapidar verordnet und Undines Bedenken zerstreut, der enttäuschte Entführer könnte unverzüglich zur Säureflasche greifen. So schnell schlachte man nicht das Huhn, das Eier legt, behauptete sie in der stillen Hoffnung, der Erpresser würde genauso pragmatisch denken.
Norma drückte das Telefon ans Ohr und lauschte, beobachtete von Regert, der stillschweigend abwartete.
Wieder Undine: »Norma? Tatsächlich, ein Zettel. Er klemmte hinter der Tafel.«
»Was steht drauf?«
»Es sind Druckbuchstaben wie auf dem ersten Brief. ›Gehen Sie zu Mauerende. Suchen Sie zwischen Mauer und Zaun.‹«
»Dann los!«
Undines hastiger Atem war zu hören, gleich darauf ein Rascheln und wieder die unterdrückte Stimme: »Ein Handy! Es lag in einer Plastiktüte im Laub unten an der Mauer und ist eingeschaltet.«
Norma überprüfte die Zeit: 17.59 Uhr.
»Noch eine Minute«, gab Norma leise zurück.
»Was ist los?«, fragte Regert ungeduldig.
Norma wehrte die Frage mit einer Geste ab und horchte auf Undines Antwort.
»Jetzt! Eine SMS.«
»Welcher Text?«
»Eine Frage: ›Wie heißt das, was Sie haben wollen?‹«, las Undine aufgeregt vor.
»Also will er sich überzeugen, dass die richtige Person das Handy gefunden hat!«
»Soll ich mit ›Schweigendes Rot‹ antworten?«, fragte Undine ungewohnt kleinlaut.
»Gut!«
Undine brach die Verbindung ab. Norma wartete still. Auch Regert schwieg und betrachtete den Wald.
Wieder das Handy. Undine.
»Die Antwort kam umgehend. Ich soll zum Schiersteiner Hafen fahren und dort weitere Anweisungen abwarten. Und jetzt?«
»Schicke eine Antwort. Verlange einen Beweis, dass er das Bild hat. Bis morgen. Sonst gibt es keinen Cent.«
Norma war klar, wie schwer Undine diese Abfuhr fallen
Weitere Kostenlose Bücher