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Kunstgriff

Kunstgriff

Titel: Kunstgriff Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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würden. Sofern sie sich überhaupt meldeten! Eine Katastrophe – für Undine, für Jawlensky, für die Kunst an sich – sollte das ›Schweigende Rot‹ tatsächlich zu Schaden kommen. Verschuldet durch die mangelhafte Durchsetzungskraft der Privatdetektivin Norma Tann, der es nicht gelungen war, ihre Klientin von der Notwendigkeit eines Polizeieinsatzes zu überzeugen. In Gedanken sah sie den Polizeibericht vor sich, der ihr gesammeltes Fehlverhalten für die Nachwelt festhielt.
    In der Wohnung war es still. Sie schlich hinaus auf den Flur. Ricos Laufschuhe fehlten. Sie zog sich an, legte sich in den Kleidern auf das Bett und griff auf gut Glück ins Musikregal: Eine CD von Marcos Band. Warum eigentlich nicht? Sie schloss die Augen und ließ die Gedanken von fremdländischen Melodien davontragen. Gar nicht so schlecht!
    Sie musste eingenickt sein. Ein Klopfen ließ sie hochfahren.
    Nina stieß die Tür auf. »Post für Mieke Lienhop!«
    Der Beweis der Erpresser? Aber nein, unmöglich. Sie würden sich direkt an Undine wenden.
    Nina ließ den Umschlag auf die Bettdecke fallen. In der anderen Hand hielt sie ein Päckchen. »Ich habe auch etwas bekommen. Merkwürdig, nicht wahr? Rico hat den Brief und das Päckchen in die Küche gebracht.«
    Er hatte eine Nachricht auf den Faltkarton gekritzelt: »Lag vor der Haustür! Von einem heimlichen Verehrer? Rico.«
    Das war die einzige Beschriftung abgesehen von Ninas vollständigem Namen, der als Computerausdruck auf einem schmalen Papierstreifen zu lesen war und mitten auf dem Karton klebte. Auf gleiche Weise war der Brief an Norma gekennzeichnet.
    Neugierig schüttelte Nina das Päckchen. »Ich mache es in meinem Zimmer auf!«
    Norma wartete, bis sie draußen war, und schlitzte den Umschlag auf. Der Inhalt bestand aus einem Blatt feinsten Büttenpapiers, darauf – sorgsam ausgerichtet – vier Zeilen in einem nostalgischen Schrifttyp. Ein Computerausdruck. Keine Unterschrift. Keinerlei Hinweise auf den Verfasser des Verses. Links neben dem Text verlief senkrecht eine dicke blaue Linie. Sie legte das Blatt auf den Schreibtisch und ging hinüber zu Nina. Das Mädchen saß auf dem Bett und blickte auf, als Norma das Zimmer betrat. Ebenso verblüfft wie verunsichert zeigte sie auf den kleinen Blumenstrauß im aufgerissenen Karton.
    »Was für eine Sorte ist das?«
    Norma betrachtete die rosafarbigen Blütenblätter mit gelben Staubgefäßen, die sie an Margeriten erinnerten. »Ich glaube, das sind Chrysanthemen. Wer um alles in der Welt schickt dir einen halb verwelkten Strauß?«
    Nina hob die Schultern. »Keine Ahnung. Es ist kein Absender dabei. Nur dieses Ticket!«
    Sie hielt Norma eine Theaterkarte hin, für eine Aufführung des Mainzer Staatstheaters im kommenden Monat: ›Trauer muss Elektra tragen‹ von Eugene O’Neill. »Ich kapier das nicht! Ich gehe nie ins Theater, und ich kenne niemanden von meinen Freunden, der so was macht.«
    »Es tut gar nicht weh!« Norma lächelte. »Vermutet Rico richtig?«
    »Der heimliche Verehrer? So ein Quatsch! Wer sollte das sein? Ehrlich gesagt, mir ist das unheimlich. Was steht in deinem Brief, Mieke?«
    Norma seufzte. »Nicht weniger seltsam, Nina. Ich habe keine Ahnung, was mir das sagen soll.«
    Sie kehrte in ihr Zimmer zurück, schloss die Tür hinter sich und las den Vers halblaut im Stehen:
     
    »›In Erwartung des lichten Morgens,
    Versunken in verhaltener Glut:
    Ein Geheimnis in Licht und Finsternis.
    Weisheitszeichen im ruhenden Licht.‹«
     
    Sie war sofort sicher, die Zeilen schon einmal gehört zu haben. Zumindest die Worte kamen ihr bekannt vor. Was mochte der blaue Balken daneben bedeuten? Grüblerisch packte sie das Papier in eine Plastiktüte.

25
    Als sie in die Küche kam, stand Daniel am Fenster und polierte die Weingläser der vergangenen Nacht. Ein Karton mit leeren Flaschen stand auf dem Tisch. Ihr Mitbewohner hatte am Abend zuvor eine Gruppe von Kollegen zu Besuch gehabt und Norma dazu auf ein Glas eingeladen. Nina und Rico hatten sich nicht blicken lassen, und Norma war nach einer Höflichkeitsviertelstunde in ihr Zimmer gegangen.
    »Nicht gut geschlafen?«, fragte er fürsorglich.
    Offenbar sah man ihr die unruhige Nacht an. Daniel hielt das Glas gegen das Sonnenlicht und wartete geduldig auf eine Antwort.
    »Nur schlecht geträumt.«
    Im Flur klappte die Badezimmertür, und gleich darauf betrat eine junge Frau die Küche: Daniels Freundin Sabine, die Norma am Abend zuvor kennengelernt hatte. Das

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