Kunstgriff
spurtete zum Wagen. Vor der Auffahrt zur Platter Straße musste sie eine Weile warten, bis sich eine Lücke auftat, und fuhr weiter in Richtung Limburg, bis sie die Ausfahrt nach Neuhof erreichte. Im Radio begannen die 18-Uhr-Nachrichten, als das gelbe Postschild in Sicht kam. Norma ließ den Wagen auf dem Gehweg stehen und drückte die Glastür auf, die in einen Vorraum führte. Dahinter war der Ladenraum zu erkennen.
Über ein Regal mit Schreibwaren hinweg bemerkte Norma eine junge Frau, die hinter dem gelben Tresen einen Stapel Briefe sortierte und nach einem freundlichen Gruß sagte: »Da haben Sie aber Glück. Ich wollte gerade schließen. Was möchten Sie denn?«
Norma schaute sich um. Sie war die einzige Kundin. »Ähm. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht.«
Die junge Frau lächelte verwundert. »Ich helfe gern, wo ich kann. Aber eine kleine Hilfestellung bräuchte es schon.«
»Ich fürchte, mich hat eine Schnapsidee hergeführt«, bekannte Norma. »Oder ist Ihnen vielleicht etwas Merkwürdiges aufgefallen?«
Die junge Frau legte die Briefe beiseite und schaute Norma aufmerksam an. »Meinen Sie damit vielleicht, ob etwas abgegeben wurde?«
Norma trat näher an den Tresen heran. »Was hat man Ihnen gegeben?«
»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das überhaupt sagen sollte.«
»Entschuldigung!« Norma nahm eine Visitenkarte aus der Geldbörse. »Ich sollte mich erst einmal vorstellen. Ich bin Private Ermittlerin.«
»Eine echte Privatdetektivin!«, staunte die junge Frau und nahm die Karte entgegen. »Sie sind Norma Tann!«
»Sie kennen mich?«
»So kann man das nicht sagen. Ich habe etwas für Sie. Ein Paket.« Nur der Name stehe darauf, fügte sie hinzu. Keine Adresse, kein Absender, lediglich der Hinweis, es würde abgeholt.
Sehr merkwürdig, stimmte Norma zu. »Wer hat es abgegeben?«
»Das war ja das Seltsame! Heute Nachmittag klopfte jemand an die Hintertür. Ich habe durch den Spion gesehen – man weiß ja nie – konnte aber niemanden entdecken. Als ich öffnete, stand der Karton vor der Tür.«
»Wann war das?«
Die junge Frau überlegte. »Zwischen 14 und 15 Uhr.«
»Und Sie haben die Person nicht gesehen?«
»Nun, ein Wagen fuhr davon.«
»Konnten Sie den Fahrer erkennen?«
Sie überlegte. »Es war ein Mann, da bin ich sicher. Aber ich würde ihn nicht wiedererkennen. Ich habe ihn nur kurz von der Seite gesehen. Außerdem hatte er so eine schwarze Wollmütze tief ins Gesicht gezogen. Und er trug eine Sonnenbrille.«
»Und das Auto?«
»Ein VW!«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Ein Golf, ganz bestimmt. Silbergrau.«
Na, immerhin! Norma bedankte sich. »Dürfte ich jetzt das Paket haben?«
Die junge Frau zögerte. »Vorher würde ich gern Ihren Ausweis sehen, Frau Tann.«
Norma lächelte. »Natürlich! Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Vorsicht. Wenn das Paket enthält, was ich mir erhoffe, ist sehr wertvoll.«
Gleich darauf hielt sie einen flachen, quadratischen Karton in den Händen. Norma bat um eine Schere und befreite einen schmalen Koffer aus seinem Verlies. Ein Koffer der Art, die in der Galerie Abendstern für Bildertransporte benutzt wurde. Gespannt griff sie nach den Verschlüssen. Mit leisem Knacken sprangen die Riegel auf.
Staunend schaute die junge Frau an ihrer Seite zu, welche Farbenpracht ans Licht kam. »Was ist das?«
Norma hielt das Bild in die Höhe. Auf den ersten Blick schien es unbeschädigt. »Ein echter Jawlensky!«
»Der russische Maler? Ich war neulich erst im Museum und habe die Ausstellung gesehen. Dass einmal eines seiner Bilder meinen kleinen Laden beehren würde! Wurde es gestohlen?«
Norma nickte. »Hauptsache, es ist wieder zurück.«
»Und es ist wirklich echt?«
»Das will ich hoffen. Falls man zwischenzeitlich eine Fälschung angefertigt hat, wird die Besitzerin das leicht herausfinden. Sie ist Expertin.«
»Sie wird überglücklich sein, das Bild zurückzubekommen. So etwas Schönes!« Sie half Norma, das Gemälde vorsichtig in den Koffer zu legen. »Eines verstehe ich nicht. Warum hat der Dieb das Paket hier in der Poststelle abgegeben?«
»Um sicherzugehen, dass es gut aufbewahrt wird, nehme ich an. Irgendein Versteck erschien ihm wohl zu riskant«, sagte Norma und schloss eine Bitte an: »Es wäre sehr wichtig, dass Sie die Angelegenheit für sich behalten.«
Die junge Frau lächelte bedauernd. »Schade! Da passiert einmal etwas Aufregendes in meinen Laden, und ich darf nicht darüber reden. Aber versprochen! Von mir
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