Kurier
diesem Scheiß«, sagte Sigrid Polaschke. »So
erwischen sie dich doch sofort.«
»Später«, murmelte Milan, »später.«
Grau hatte jedes Körpergefühl verloren und horchte ängstlich
in sich hinein. Er versuchte herauszufinden, ob irgendetwas in ihm zerbrochen
war. Etwas fahrig suchte er an seinem rechten Handgelenk den Puls. »Wieso haben
die sofort geprügelt?«
»Dieser Sundern führt wohl ein Doppelleben.« Milans Stimme
klang so, als erzählte er Kindern eine Gutenachtgeschichte. »Er ist tagsüber
Geschäftsmann oder Anwalt. Nachts ist er König in einer anderen Welt.«
»Er hat mich angesehen«, sagte Grau kopfschüttelnd. »Er
hat mich angesehen und gespottet. Die Frau spottete auch. Ich habe einen Fehler
gemacht. Aber welchen?«
»Hast du«, bestätigte Milan. »Du hättest dich von diesen
Kerlen nicht abdrängen lassen dürfen. Sie haben dich … sie haben dich einfach
geschubst.«
»Was hätte ich denn tun sollen?«
»Draufhauen«, erwiderte Milan. »Ja, ja, ich weiß, das
willst du nicht.«
»Was hast du mit diesem Frettchen wirklich gemacht?
Ehrlich, nur in den Lokus gesperrt?«
»Etwas mehr«, sagte Milan knapp und ernst. »Ich habe ihm
gesagt, er soll dich im Leben nie wieder anfassen. Dann habe ich eine Doublette
– nennt man das hier auch Doublette? – angesetzt. Rechtes Ohr, linkes Ohr. Dann
wollte er brüllen und ich habe ihm das Maul gestopft.«
»Aber er hat nicht dich geschlagen«, sagte Grau in matter
Empörung.
»Aber er hat es befohlen«, erklärte Milan ruhig. »Ich
habe Lokuspapier genommen. Er hatte den Mund voller Lokuspapier und er konnte
es nicht loswerden, weil ich seine Hände in den Gürtel gestopft und fest
zugezogen habe.«
»Verdammt brutal.« Grau war angewidert.
»Was willst du? Wozu brauchst du Sundern? Und wieso
dieser Blonde mit den englischen Schuhen? Berlin-Geschichte!« Milan wurde
langsam heftig.
»Du bist nicht mehr mein Schatten«, sagte Grau und wollte
aufstehen. Aber das konnte er nicht und das Wasser schwappte über den
Wannenrand.
»Wieso? Erst willst du Schatten, dann brauchst du ihn,
dann willst du ihn entlassen.« Milan lachte unterdrückt.
Dann wurde er unvermittelt ernst und erklärte: »Es ist
wie zu Hause. Du hast einen kleinen Trupp, du hast ein Kommando. Irgendeiner
mit viel Orden schickt dich auf eine Straße und sagt: ›Halt die Augen offen!‹
Du hältst die Augen offen und siehst viele Trupps, die dich kaltmachen wollen.
Du denkst, Scheißkommandeur, hat es gewusst und einfach nichts gesagt. Was hat
man dir nicht gesagt?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Grau. »Ich will raus aus dem
Wasser.«
»Erst kaltes Wasser«, beharrte Milan. »Das ist gut für deinen
Kreislauf.« Er zog den Stöpsel aus der Wanne und ließ kaltes Wasser nachlaufen.
Grau hörte auf zu frieren.
Milan rieb ihn mit einem harten, dünnen Handtuch ab und
führte ihn dann in sein Zimmer. »Nix anziehen, nackt ins Bett legen. Und jetzt
erzählst du ein bisschen, ja?«
»Wie viel Uhr ist es eigentlich?«
»Zwei, glaube ich. Oder willst du schlafen?«
»Ich will nicht schlafen. Ich möchte wissen, ob Angie
nach Teneriffa geflogen ist.«
»Wer ist Angie?«
»Eine alte Freundin«, sagte Grau. Er griff zum Telefonhörer
und wählte die Nummer. Als niemand abhob, sagte er: »Sie ist geflogen, sie ist
eine Preußin, sie ist wirklich geflogen.«
»Wie fing alles an?«, fragte Milan. »Bist du ein
Journalist? Bist du jemand, der schreibt?«
»Ja, das bin ich. Es fing mit Eichhörnchen an. Das ist meine
Tochter. Nein, das war meine Tochter. Sie ist tot. Das ist sehr lange her, sehr
lange.«
»Töchter sind niemals lange her«, murmelte Milan begütigend.
»Ich kenne mich aus. Was war mit deiner Tochter? Unfall?«
»Nein, nein, Heroin. Eine alte Geschichte, gar nicht besonders
aufregend, eigentlich eher ziemlich normal …«
»Hör schon auf …«
»Sie war siebzehn, sie war im Gymnasium, sie war klug und
sehr verletzlich. Ja, und sie war hübsch.« Er lächelte flüchtig.
»Wir lebten erst in Washington. Ich arbeitete dort für
eine Nachrichtenagentur. Dann in Montreal, in Kanada, dann in Rom. Es war
eigentlich gut. Nicht allzu viel Arbeit. Ich bin dann nach München gegangen,
Eichhörnchen war damals vierzehn. Eigentlich war alles okay, alles lief
ziemlich ruhig, sie war eine gute Schülerin, meine Ehe war auch gut. Nicht aufregend,
aber ziemlich fest, verstehst du?
Irgendwie haben wir dann alles falsch gemacht. Ich muss
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