Kurier
»Bleib hier, ich hole ein Taxi.«
»Aber was hast du gemacht?«
»Ich bin dein Schatten, ich habe ihn geschnappt, als die
beiden anderen dich die Treppe runterwarfen. Er sitzt auf dem Lokus, es geht
ihm nicht gut.«
»Keine Gewalt!«, sagte Grau schrill.
»Du bist ein Kind«, antwortete Milan.
Zweifel
Grau begann zu würgen und musste sich explosiv übergeben. Es
schmerzte.
Der Taxifahrer fluchte unterdrückt und stoppte scharf.
»Ich habe Tempotücher, ich mache das sauber«, erklärte
Milan gemütlich.
»Das kostet zwanzig Mark extra«, schrillte der Taxifahrer
wütend.
»Schon gut, mein Freund. Fahr weiter, du kriegst dein Geld.«
»Wieso müssen Leute immer so saufen?« Der Fahrer
schnaubte verächtlich.
»Er hat nichts getrunken, er ist krank«, stellte Milan
richtig.
»Na ja, ich denke eben …«
»Du sollst fahren«, sagte Milan. »Wir haben es eilig.«
»Ich will keinen Arzt«, hauchte Grau zittrig.
»Wir fahren nicht zu einem Arzt«, beruhigte ihn Milan.
»Wir fahren zu Sigrid.«
»Wenn es Grippe ist, hilft Brennesseltee«, sagte der Fahrer
hilflos.
»Ich steige aus«, sagte Grau matt. »Ich steige aus dieser
gottverdammten Geschichte aus.«
»Kannst du eigentlich klar sehen?«, fragte Milan kühl.
»Ja, kann ich, glaube ich.«
»Das ist gut«, sagte Milan beruhigt. »Wir hatten einen
bei einer Patrouille, der stürzte einen Abhang runter. War eigentlich harmlos,
aber dann, nach zwei Tagen, fiel er um. Er hatte nur Sehstörungen. Einfach bewusstlos,
verstehst du? Wir haben gewartet, weil wir ihn nicht krepieren lassen wollten.
Dann kamen Serben und haben uns zusammengeschossen. Von acht war ich der Einzige,
der rauskam. Der Bewusstlose hat nichts mehr mitgekriegt, er ist einfach gestorben.«
»Sie waren sicher bei der UNO?«, fragte der Fahrer.
»Na sicher«, sagte Milan heiter. »Halte da vor dem Haus.«
»Ich steige aus«, murmelte Grau verbissen.
»Erst mal gehst du in die Badewanne«, sagte Milan. »Später
reden wir. Langsam, ganz langsam. Und wenn es nicht geht, sagst du Bescheid.«
»Ja, Papa«, sagte Grau.
»Und dann sagst du mir, was wirklich ist, du Journalist.
Langsam jetzt.«
»Ich mache eine Berlin-Geschichte«, beharrte Grau.
»Und dafür brauchst du einen Schatten.« Milan lächelte.
»Langsam jetzt bei der Treppe.«
In der Tür zur Pension stand Sigrid Polaschke und sagte
verkrampft zwischen Weinen und Lachen: »Sie haben euch aufgemischt, gib’s zu,
sie haben euch aufgemischt!«
»Sie haben ihn etwas scharf rasiert«, erklärte Milan. »Lass
Wasser in die Wanne laufen. Nicht zu heiß, angenehm. Mach schon!«
»Ich habe dir gesagt, dass das Scheiße ist«, maulte sie.
»Ich konnte das nicht ahnen«, murmelte Grau.
»Sind Sie ein Geheimbulle oder so was?«, fragte die Polaschke.
»Nicht die Spur«, antwortete Grau.
»Lass Wasser ein!«, sagte Milan scharf.
»Scheißmannsvolk!«, schimpfte sie empört und verschwand.
»Ich bin doch nicht krank«, stellte Grau matt fest.
»Du wirst vielleicht tagelang nicht gehen können«, sagte
Milan. »Du badest jetzt.«
»Was hast du mit diesem Mann gemacht, diesem schmalen,
hageren?«
»Nicht viel«, sagte Milan beruhigend. »Hier ist das Badezimmer.
Ich habe ihn in einen Lokus gesperrt. Komm jetzt, zieh dich aus.«
»Hattest du in Jugoslawien auch immer eine Badewanne mit
warmem Wasser, wenn du gestolpert bist?«
Milan lächelte. »Nein. Aber irgendein Bach war immer da.
Was ist? Was willst du eigentlich wirklich in Berlin? Zieh dich schon aus!«
»Er soll erst mal eine Handvoll Aspirin nehmen«, sagte
die Polaschke hinter ihnen. Sie hatte geweint, das Lippenrot war verwischt, die
schwarze Wimperntusche auf die Wangen gelaufen.
Grau sah sie an, nahm die Tabletten und stopfte sie in
den Mund. Dann würgte er und spuckte sie wieder aus. »Ich friere«, sagte er.
»Zieh dich aus. Komm, ich zieh dich aus. Du musst dich
ins Wasser legen!«, sagte Milan heftig.
»Ich friere«, wiederholte Grau. Er hatte Angst, er hatte
das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Er ließ es zu, dass sie ihn auszogen,
und er ließ sich helfen, in die Badewanne zu steigen. Als er im Wasser lag,
fror er immer noch. »Diese Frau ist sehr hübsch«, murmelte er.
Milan nickte. »Sie ist ein Wahnsinnsschuss.«
»Schuss? Nennt man das Schuss?«
»Bei Zuhältern nennt man das Schuss«, kommentierte Sigrid
Polaschke bissig.
»Du machst jetzt die Augen zu«, befahl Milan.
»Hört auf mit
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