Kurier
kleinen Lampe auf dem Nachttisch war kaputt.
»Na«, krächzte die Mama in der Tür, »sind Sie ein Freier
von meiner Sigrid?«
»Nein«, gestand Grau. »Sigrid ist mehr ein Kumpel.«
»Aber sie ist verdammt gut«, sagte sie. »Ich habe immer
Wert darauf gelegt, dass sie fleißig arbeitet.«
»Ja.« Grau packte seine Wäsche in den Schrank. »Haben Sie
ein gekühltes Bier?«
»Habe ich. Kostet aber einen Fünfer pro Pulle.
Schließlich muss man was verdienen im Leben.«
»Hier ist Geld«, sagte er. »Ich bezahle auch gleich beide
Zimmer. Ein paar Hunderter als Vorschuss?«
»Das finde ich gut«, sagte sie. Sie füllte die Tür vollkommen
aus.
Grau reichte ihr einige Scheine und sagte: »Ich brauche
keine Quittung, aber ich brauche ein Bier.«
»Das bekommen Sie, junger Mann«, sagte sie. Verwunderung
war in ihrer Stimme, wahrscheinlich hatte sie nicht damit gerechnet, überhaupt
einen Pfennig zu sehen. Dann verschwand sie, um sofort danach mit zwei Flaschen
Bier aufzutauchen. »Wollen Sie ein Glas? Also, ich brauche nie eins.«
»Ich auch nicht«, sagte Grau und prostete ihr zu.
Milan kam zurück und reichte ihr eine Flasche Wodka.
»Ach, ich weiß nicht, ob ich noch einen trinke«, flötete sie und verschwand.
»Sie setzt sich jetzt vor den Fernseher, legt einen Porno
in den Videorekorder, trinkt den Wodka und schläft irgendwann ein. Sie ist
Sigrids Ziehmutter. Sigrid ist ein Findelkind. Als die Nazis hier herrschten,
ist Mama angeblich die jüngste und erfolgreichste Puffmutter in Berlin gewesen.
Sie ist total verrückt, aber ein guter Typ.«
»Wovon lebt sie?«
»Das Sozialamt bezahlt die Rente. Wir geben ihr was dazu,
wenn sie nichts mehr hat. Manchmal glauben wir, sie legt sich einfach hin und
stirbt. Aber sie liebt das Leben noch immer. Sie ist zweiundachtzig!«
»Wie bitte?«
Milan nickte grinsend. »Glaub es nur. Außerdem sollten
wir uns langsam mal umziehen. Und dann gehen wir auf die Piste. Ihr nennt das
doch so? Ich habe mit Sigrid gesprochen, ich weiß, in welche Klubs und Kneipen
wir gehen müssen.«
Eine halbe Stunde später verließen sie das Haus. Von
Nordwesten her zog Bewölkung auf, es sah nach Gewitter aus. Grau hoffte auf ein
Unwetter. Er würde sich mit innigem Vergnügen auf einen Hinterhof stellen, sein
Hemd ausziehen und das Prasseln der Tropfen auf seiner Haut spüren. Er hatte
das Gefühl, sich irgendwie abwaschen zu müssen.
Sie verabredeten, dass jeder von ihnen einen Taxichauffeur
engagieren sollte. Pro Etablissement würden sie nur ein Glas trinken, Schnaps
und andere scharfe Sachen waren tabu.
Sie schwatzten mit Thekengästen und Bardamen, mit
Rausschmeißern und fragwürdigen Typen. Sie hockten in altdeutschen Kneipen auf
Möbeln in Eichendekor. Sie schlenderten durch alte Werkshallen, die der
Zeitgeist in moderne Neonfarben gehüllt hatte und die in der Szene als ›Kreativsümpfe‹
bezeichnet wurden.
Sie erfuhren, dass sich auf dem Berliner Drogenmarkt viele
Gruppen tummelten: Italiener, Deutsche, Jugoslawen, angeblich auch Russen,
Japaner und irgendwelche Leute aus Amsterdam, außerdem Griechen, Türken,
Zuhälter, Nutten.
Sie erfuhren nichts wirklich Neues, nichts Aufregendes.
Sie erkundigten sich beiläufig nach Sundern und man sagte ihnen bereitwillig,
Sundern wäre der König der Nacht, ein Freund aller Lokalpolitiker,
wahrscheinlich steinreich. Aber niemand konnte ins Detail gehen, niemand wusste
Genaues, wenngleich jeder so tat, als wäre er gut informiert. Sundern war die
Hauptfigur in einem Märchen, dessen Fabel niemand kannte.
Zuweilen traten Grau und Milan als Freundespaar auf, dann
wieder trennten sie sich und sprachen mit meist freundlichen, meist betrunkenen
Nachtschwärmern, die nuschelnd Auskunft gaben über Dinge, nach denen niemand
sie gefragt hatte. Sie erfuhren mühelos, wer ihnen Haschisch oder Amphetamine,
Kokain oder Heroin verkaufen konnte. Aber all diese Auskünfte verstärkten in
Grau lediglich das dumpfe Gefühl, nichts Wichtiges in Erfahrung bringen zu
können.
Vorsichtig schwadronierte er über die neuen Drogenmärkte,
die sich im wiedervereinigten Deutschland etablieren würden, und prompt
versicherte man ihm freundlich, dass all die großen und kleinen Dealer das
sicherlich längst im Griff hätten. Fragte er, ob Unruhe die Szene ergriffen
hätte oder irgendetwas auf Auseinandersetzungen zwischen Dealergruppen hinwies,
so erntete er die weise Entgegnung, dass gerade Dealer jeden Grund der Welt
hätten,
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