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Kurpfalzblues

Titel: Kurpfalzblues Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlene Bach
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lief die Treppe
hoch.
    »Jetzt ist Schluss, jetzt reicht es!«
    Was schon seit dem Mittag bedrohlich wie eine Gewitterwolke über
ihnen geschwebt hatte, bahnte sich seinen Weg.
    Sarah schimpfte, Julie klammerte sich mit beiden Händen am Geländer
fest. Sarah löste Finger um Finger, Julie schrie, Tränen strömten wie ein
Sturzbach über das Gesicht, das sich zornesrot einfärbte, als stecke der Satan
persönlich in dem kleinen Körper.
    Natürlich kamen sie zu spät. Natürlich war ihre Mutter sauer.
    Sarah fuhr mit dem Rad zur Arbeit, es war schneller, als auf die
Straßenbahn zu warten.
    Sie beeilte sich, hetzte den ganzen Abend lang. Vom Tisch zurück an
die Theke, von der Theke zurück an den Tisch, von Tisch eins zu Tisch sieben,
von Tisch sieben zu Tisch fünf und wieder an die Theke. Bringen Sie mir noch
… Kann ich bitte … Ich hätte gerne …
    Aufregung waberte durch den Gastraum. Gesprächsfetzen, die sich
immer um das gleiche Thema drehten. Eine Frau war ermordet worden, man hatte
sie aus dem Neckar gezogen. Der Mörder hatte ihr ein Gedicht geschickt, bevor
er sie umgebracht hatte.
    Durchgedrehter Professor, ein Bekloppter, einer aus der Klapse.
Bestie, Monster. Arme Frau. Abgestochen, vergewaltigt, gevierteilt, in kleine
Stücke gehackt.
    Sarah konnte es irgendwann nicht mehr hören. Sie dachte an ihre
Tochter. Julie hatte den Kopf weggedreht, als sie ihr einen Abschiedskuss geben
wollte.
    Um elf Uhr suchte der Wirt den Sender im Radio und stellte laut. Es
war totenstill im Raum. Die Verse des Mörders: Erster Akt. Einsamkeit quält,
zerstückelt das Herz …
    Weiter ging es im Gastraum: Killerdichter, perverser Schmierfink,
Monster, widerliches Schwein.
    Um eins konnte sie endlich gehen. Draußen war es seltsam hell. Sarah
schaute zum Himmel. Riesig hing der Vollmond über der Stadt.
    Sie löste das Sicherheitsschloss ihres Fahrrads und machte sich auf
den Heimweg. Ob sie sich nicht besser ein Taxi nehmen wolle, hatte der Wirt
gefragt. Wo doch dieser Verrückte noch frei rumlaufe. Ob er es denn bezahlen
würde, hatte Sarah ihn gefragt. Dieser Idiot.
    Seltsamerweise war sie heute gar nicht müde. Vielleicht lag es am
Mond, der wie eine riesige Scheibe am Himmel schwebte und die Nacht so gar
nicht Nacht sein lassen wollte.
    Mal wieder so richtig versumpfen. Warum nicht, wenn sie sowieso eine
Rabenmutter war. Sie musste Julie ja erst morgen früh wieder abholen.
    Früher war sie abends oft durch die Altstadt gebummelt, hatte ganze
Tage mit ihren Freundinnen bei Starbucks verbracht. Und manchmal waren sie nach
Mannheim in die »Alte Feuerwache« gefahren.
    Das Trinkgeld war heute nicht schlecht gewesen. Warum sollte sie
eigentlich immer jeden Cent auf die Seite legen? Julie mochte ja doch die Oma
am liebsten.
    Die Ampel schlug um auf Rot. Sarah hielt. Sie war schon einmal
erwischt worden, als sie nachts mit dem Rad bei Rot über eine Ampel gefahren
war. Die hatten ihr doch tatsächlich sechzig Euro abgeknöpft.
    Hatte sie ihr Portemonnaie eigentlich eingesteckt? Sie hatte das
Trinkgeld hineingetan und es auf die Theke gelegt. Und dann?
    Sarah griff in ihre Jackentasche. Da war es, Gott sei Dank. Ihre
Hand berührte noch etwas anderes. Den Umschlag, den sie zu Hause aus dem
Briefkasten gezogen hatte. Julies Wutanfall hatte alles andere unwichtig werden
lassen.
    Sie zog das Papier heraus und faltete es auseinander. Es war gar
kein richtiger Brief, es waren nur ein paar Zeilen, untereinandergeschrieben.
    Sarah las Vers um Vers, ihre Augen flogen immer schneller über das
Geschriebene. Voll Sehnen, voll Hoffen, voll Bangen, will sterben vor Lieb und Verlangen …
    Es stand kein Name darunter.
    Hinter ihr das leise Quietschen einer Fahrradbremse. Sarah drehte
sich um. Da stand jemand, keinen Meter entfernt, ein Bein auf dem Boden
abgestützt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
    Mann oder Frau? Nicht einmal das konnte sie erkennen.
    Der Brief. Das war ein Gedicht.
    Jemand hatte ihr ein Gedicht geschrieben!
    Perverser Schmierfink. Monster. Arme Frau. Abgestochen, vergewaltigt, gevierteilt, in kleine Stücke
gehackt.
    Warum hatte sie nicht ein Taxi genommen?
    Ein dunkles Räuspern.
    Das war er .
    Sarah stieg auf das Rad, trat mit aller Kraft in die Pedale. Sie
musste weg, fliehen, schneller sein.
    Der Schmerz traf ihren Körper völlig unvorbereitet. Ein Schrei,
seltsam weit entfernt, und doch war es ihre eigene Stimme. Blut, das warm über
ihre Haut lief.
    Ein Gesicht, halb verdeckt von einer Kapuze, das

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