Kurs auf Spaniens Kueste
aus, die ihm der gestreckte Arm wies. Die ersten grauen Vorboten der Dämmerung kämpften sich durch abziehende Regenschauer und tiefhängende Wolkenfetzen in Lee. Und da, keine halbe Meile entfernt, lag mit schwach schimmernden Lateinersegeln eine Polacca. Dann zog der Regen wieder den Vorhang zu, aber Jack hatte schon erkannt, daß es sich tatsächlich um seine Polacca handelte und daß sie nachts ihre Großbramstenge verloren hatte.
»Sie haben kolossale Augen, Andersen«, sagte er und schlug dem Ausguck anerkennend auf die Schulter.
In die gespannten, stummen Gesichter von Jung-Mowett und der ganzen Achterdeckswache hinein erklärte er mit einem Grinsen, das sich nur schwer unter Kontrolle halten ließ: »Sie liegt genau in Lee von uns. In Süd zu Ost. Jetzt können Sie die Sophie beleuchten und ihnen unsere Stärke zeigen. Ich möchte vermeiden, daß sie etwas Dummes versuchen, zum Beispiel eine Kanone abfeuern und vielleicht noch einige unserer Leute verwunden. Lassen Sie mich's wissen, wenn wir längsseits gehen.« Damit zog er sich zurück und rief nach Licht und einem heißen Getränk. Bis in seine Kajüte hinunter hörte er Mowetts Stimme, schrill und abgehackt vor Aufregung über seine ungeheure Verantwortung (er wäre mit Freuden für Jack auch gestorben), während die Sophie ihre Flügel ausbreitete und auf die Polacca hinabstieß.
Jack sank gegen die geschwungene Lehne seiner Heckbank und ließ Killicks Version von heißem Kaffee schluckweise in seinen dankbaren Magen rinnen. In dem Maße, wie sich dessen Wärme in seinem ganzen Körper ausbreitete, stieg auch eine große Welle zufriedener, ungetrübter, gelassener Glückseligkeit in ihm auf — einer Glückseligkeit, die jeder andere Kommandant (wenn er sich an seine eigene erste Prise erinnerte) bei der Lektüre des Logbuchs nachempfunden hätte, obwohl es nicht viel Wesens darum machte:
22.30 Uhr gewendet, Untersegel weggenommen, Marssegel gerefft. Morgens bewölkt und regnerisch. Um 04.30 Polacca in S zu 0 gesichtet, Distanz eine halbe Meile. Dito angesteuert und in Besitz genommen. Name L'Aimable Louise , beladen mit Getreide und Haushaltswaren für Sète, 200 t, 6 Kanonen und 19 Mann. Mit Prisenoffizier und 8 Mann nach Mahón überstellt.
»Lassen Sie mich nachschenken«, schlug Jack wohlwollend vor. »Er schmeckt ja doch etwas besser als unser gewohnter Wein, nicht wahr?«
»Gern. O ja, er ist weitaus besser und viel, viel stärker — ein gesunder, belebender Jahrgang«, sagte Stephen Maturin. »Eben ein echter Priorato. Priorato liegt hinter Tarragona.«
»Echt ist er bestimmt. Aber um auf die Prise zurückzukommen: Ich bin vor allem deshalb so froh darüber, weil sie die Männer sozusagen anfüttert. Damit bekomme ich den Rücken etwas freier. Wir haben einen hervorragenden Prisenagenten — er ist mir verpflichtet —, der uns gewiß hundert Guineen Vorschuß zahlen wird. Sechzig oder siebzig davon kann ich unter der Besatzung aufteilen und vom Rest endlich mehr Schießpulver kaufen. Nichts wäre besser für die Stimmung der Crew, als an Land tüchtig zu feiern. Aber dafür müssen sie erst mal Geld bekommen.«
»Werden sie denn nicht desertieren? Sie haben mir oft von Fahnenflucht gesprochen — von der allgegenwärtigen Gefahr der Fahnenflucht.«
»Wenn sie ihr volles Prisengeld zu erwarten haben und mit noch mehr rechnen können, desertieren sie nicht, zumindest nicht in Mahón. Glauben Sie mir, die werden jetzt mit Feuereifer an den großen Kanonen üben — mir ist gewiß nicht entgangen, wie sie darüber gemault haben, daß ich sie so schinden mußte. Aber jetzt begreifen sie den Sinn und Zweck des Ganzen ... Wenn ich Pulver kriege — ich kann es nicht riskieren, noch mehr von unserem Vorrat zu verschwenden —, dann veranstalten wir ein Wettschießen Backbordbatterie gegen Steuerbordbatterie oder Wache gegen Wache und setzen einen hübschen Preis für den Sieger aus. Habgier und Ehrgeiz zusammen sollten es schließlich schaffen, daß unsere Artillerie mindestens so gefährlich für andere wird wie für uns selbst. Und dann — Gott, bin ich müde — können wir endlich ernsthaft als Handelsstörer in Erscheinung treten. Ich denke dabei an Nachtoperationen dicht unter der Küste ... Aber erst sollte ich Ihnen wohl sagen, welchen Zeitplan ich mir ausgedacht habe: eine Woche bei Kap Crens, dann zurück nach Mahón, um Proviant und Wasser einzunehmen, vor allem Wasser. Dann die Zufahrtswege nach Barcelona und an der Küste —
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