Kurs Minosmond
klar, können Sie!“ sagte er. „Wenn Sie gern erzählen, werden wir das immer so machen.“
Der Kranke, von dessen Krankheit immer noch nichts zu spüren war, schnaufte zufrieden. „Ich bin schon ein halbes Jahr hier“, begann er, „und werde auch noch ungefähr ein halbes Jahr bleiben. Deshalb die Einrichtung hier.“ Er ließ seine linke Hand eine ausholende Bewegung machen, die das ganze Zimmer einschloß, und da sahen sie zum erstenmal, daß die rechte in einer Art Fausthandschuh steckte.
„Ich bin vom Dienst her Fluglehrer. Ich gebe Unterricht im Drachenfliegen und probiere auch neue Typen aus. Dabei ist es passiert – eine Bö nicht richtig genommen, und schon lag ich unten. Aber nicht auf dem Boden, sondern auf einem Baum. Den hat der Drachen ziemlich zerfetzt. Mich aber auch. Davon ist heute nichts mehr zu sehen, sogar die Narben hab ich weggekriegt. Nur noch das hier.“ Er zog den Fausthandschuh ab, da kam eine Kinderhand zum Vorschein. „Die Hand war abgerissen, die Knochen gesplittert. Jetzt lassen wir die Hand nachwachsen. Zuerst haben sie mir solche Dinger – wie heißen die? Ich weiß schon: Nukleasen – gegeben, die schließen die Gene auf, aber dann hab ich mich auf die Sache konzentriert, und mein Körper hat angefangen, diese Nukleasen selbst zu produzieren und an der richtigen Stelle zu konzentrieren. Gut, was?“
Wenzel hatte der Erzählung mit wachsender Erregung gelauscht. Während nun der Arzt erläuterte, daß es bisher drei Fälle in der Welt gegeben habe, bei denen eine Extremität nachgewachsen sei, in jedem Fall Selbstheiler mit ärztlicher Hilfe, hörte Wenzel gar nicht mehr zu. Ihm war eine verblüffende Parallelität bewußt geworden. War es mit der Hand nicht genauso wie mit Mohrs Herz – wenn man von der Gegensätzlichkeit der Wirkungen absah? Hier wie da war eine neuartige, früher unbekannte Wirkung dadurch erzielt worden, daß der Betreffende sich lange Zeit darauf konzentriert hatte – dort der Tod ohne Grund, hier das Nachwachsen einer Hand. Wenn es sich nun um eine neue menschliche Fähigkeit handelte, die – unbewußt angewandt – Schaden anrichten konnte, bewußt angewandt aber unwahrscheinlichen Nutzen? Wenzel kam es so vor, als hätte er diesen Zusammenhang schon mal gelesen oder gehört, vielleicht auch nur in ähnlicher Form; aber er hatte in den letzten Wochen derartig viel Material durchgesehen oder auch nur überflogen und mit so vielen Leuten gesprochen, daß er sich nicht mehr erinnern konnte, ob und von wem er diesen Gedanken übernommen hatte.
Gleichviel – die Verfolgung dieser Angelegenheit eröffnete so ungeheure Perspektiven, daß er jetzt ganz sicher war: Das wuchs sich zu einem globalen Problem aus. Vermutet hatte er es schon lange, aber jetzt war der Punkt erreicht, wo aus der Vermutung Gewißheit wurde und wo sich die Vermutungen weiter vorausschoben: Was allein bot das Selbstheilertum an Möglichkeiten für die Menschheit, wenn man der Sache auf den Grund kam und sie noch gezielter anwenden konnte. Und das war nur ein Bereich – vermuten ließ sich doch, daß es Dutzende von Bereichen des Lebens geben würde, nein, nicht Dutzende, sondern letztlich alle, die von dieser neuen Fähigkeit des Menschen oder, wenn sich das als richtig herausstellen sollte, des menschlichen Gehirns revolutioniert würden!
Eigentlich – und diese Überlegung ernüchterte Wenzel wieder – mußte die ganze Gesellschaft umgewälzt werden. Das aber – nein, das war zu weit gegriffen. Zum erstenmal stellte Wenzel in Gedanken nicht die eine oder andere Regelung, nicht das eine oder andere Attribut der Stabilität in Frage, sondern die Stabilität überhaupt. Und das schien ihm unzulässig. So etwas durfte man nicht spekulativ denken. Nicht leichtfertig. Nicht ohne die zwingendsten Gründe. Aber der Gedanke war dagewesen und würde wiederkommen, und Wenzel würde sich irgendwann doch gründlich damit auseinandersetzen müssen. Er würde ihn nicht verschweigen können, wenn er mit dem Konrat zusammentraf, und das würde über kurz oder lang geschehen. Er würde den Gedanken nicht verschweigen dürfen. Dann aber mußte er eine Meinung dazu haben. Und bis dahin war es noch weit.
Jetzt war er soweit, sich von dem Patienten zu verabschieden, ihm gute Besserung zu wünschen, ihm die gesunde Linke zu schütteln und die Bedeutung des Selbstheilertums zu würdigen.
„Wer weiß“, sagte der Kranke plötzlich mit verschmitztem Lächeln, „vielleicht hilft das sogar
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