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Kurs Minosmond

Kurs Minosmond

Titel: Kurs Minosmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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Die Frau hatte eine warme, überraschend volle Stimme, und sie war sehr beherrscht. Wenzel spürte nur dank seiner Fähigkeit zum Einschwingen in die Stimmung anderer, von der Magierkunst trainiert, daß sie sehr erregt war.
    „Frau Koslowski wird gleich wiederkommen“, sagte er. „Sie sind, wenn ich nicht irre, Frau Sibylle Mohr?“
    „Was ist mit Otto?“ fragte sie zurück, nun deutlich aufgeregt.
    „Setzen Sie sich bitte“, sagte Wenzel. Es wäre ihm albern vorgekommen, zu fragen, weshalb sie denn argwöhne, es sei etwas mit Otto – die Frage konnte er sich allein beantworten: Sie kommt ihn besuchen, ruft von unterwegs an, niemand meldet sich, auf dem Dorfplatz steht ein Hubschrauber, im Zimmer der Ratgeberin ein Fremder… Statt dessen stellte er sich vor und sagte dann: „Ihr ehemaliger Mann, Frau Mohr, ist heute morgen gestorben.“
    Die Frau bewahrte auch jetzt Haltung, aber Wenzel merkte doch, wie schwer es ihr fiel. Er fuhr fort: „Es sah anfangs aus wie ein gewaltsamer Tod, sogar wie ein Mord, aber inzwischen ist das nicht mehr so wahrscheinlich. Ich war übrigens gerade im Begriff, Ihnen eine Nachricht zukommen zu lassen, als ich Sie aussteigen sah.“ Wenzel hatte das Ende des Satzes ein wenig schweben lassen, so daß man ihn auch als Frage auffassen konnte.
    Frau Mohr begriff sofort. Sie öffnete ihre Handtasche, kramte etwas darin und nahm einen Brief heraus. „Deshalb bin ich hier“, sagte sie und reichte Wenzel den Brief. „Danke“, sagte Wenzel.
    Der Brief war von hier nach Gagarin gegangen, eine immerhin nicht gewöhnliche Strecke. Normalerweise wurden Briefe über Telex unter Personalkode übermittelt, nur der Adressat konnte sie auf dem Bildschirm abrufen oder ausdrucken lassen. Der persönliche, handgeschriebene Brief war selten geworden, und er war immer sehr intim. „Darf ich lesen?“ fragte Wenzel deshalb. „Bitte.“
    Wenzel zog den Brief heraus und entfaltete ihn. Das Schriftbild war ihm sympathisch, noch ehe er die Worte gelesen hatte. Es waren nur wenige Sätze: „Liebe Freundin, bitte besuch mich zum Frühlingsanfang. Sei dieses eine Mal nicht unabkömmlich. Fünf Jahre sind eine lange Zeit, sie haben viel verändert, und es ist nun bald der Punkt erreicht, an dem die Veränderung sich manifestieren wird. Du solltest dabeisein.“
    Irgend etwas sollte also geschehen dieser Tage, etwas Wichtiges, etwas Abschließendes, so bedeutend, daß es eine Reise von Gagarin zur Erde und zurück rechtfertigte, wichtig aber in erster Linie für die Frau und den Mann, denn andere waren doch wohl nicht eingeladen, wenigstens war bisher dergleichen noch nicht bekannt geworden. Es konnte ja sein, daß jetzt, heute oder morgen, noch Freunde oder Kollegen erschienen – die Kinder hatte Otto Mohr jedenfalls nicht eingeladen, die hätten das der Ratgeberin gesagt.
    „Haben Sie eine Vorstellung, was er gemeint haben könnte?“ fragte Wenzel.

Sibylle Mohr schüttelte den Kopf. „Kann ich ihn sehen?“
    „Später, er ist in der Obduktion.“
    „Wie…, ich meine, wer… Was ist überhaupt geschehen?“ fragte Sibylle Mohr.
    Wenzel erzählte ihr, wie der Tote gefunden worden war und was inzwischen bekannt war, und er verbarg nicht, daß er augenblicklich noch ziemlich ratlos war. Der erste Punkt, der auf bisher unbekannte Zusammenhänge deutete, war diese Einladung. „Da ja nun dieser Brief ahnen läßt, daß hier langfristige Entwicklungen eine Rolle spielen – vielleicht könnten Sie mir ein Bild von dem Toten geben.“
    „Es wird aber in einigen Punkten dem Bild widersprechen, das Ihnen andere geben werden, zum Beispiel… Hiesige…“
    „Warum das?“
    „Nun, sie haben hier auf jeden Fall eine bessere Meinung von Otto als von mir.“
    „Weil Sie ihn verlassen haben?“
    „Ja, oder vielmehr wegen der Gründe dafür. Was sie für die Gründe hielten.“ Es sei doch so, erklärte die Physikerin, daß die meisten Menschen von den drei Tätigkeitsbereichen – Dienst, Handwerk und Kunst – den letzteren am wichtigsten nehmen, so auch die Leute im Vorwerk. Sie hingegen sei mit Leib und Seele Wissenschaftlerin. Kunst sei fast immer mit dem Ort, der Gegend, allenfalls mit dem Sprachbereich verwachsen, Physik aber müsse man da betreiben, wo die Experimente gemacht werden. Nicht unbedingt immer und lebenslänglich, doch jeder Lebenslauf eines Physikers ziele letzten Endes darauf. So wurde auch sie auf Grund einer Veröffentlichung zum Projekt Raumkrümmung berufen – und nahm

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