Kurs Minosmond
an.
„Aus Ehrgeiz?“
„Das dachten die andern auch. Aber das dort ist das Lebenswerk von zehntausend Wissenschaftlern. Ich bin einer davon. Und auch die Art zu arbeiten läßt keinen Raum für Ehrgeiz. Wer ehrgeizig wird, kann nicht gedanklich mit andern kooperieren und schon gar nicht unbefangen kritisieren. Man wird unschöpferisch, das geht sehr schnell.“
„Hielt Otto Sie auch für ehrgeizig?“ fragte Wenzel, um das Gespräch wieder auf den eigentlichen Gegenstand zu lenken.
„Gerade Otto“, sagte sie. „Obwohl er es hätte besser wissen müssen. Aber daß er es tat, hat mir das Weggehen erleichtert.“ Sie lachte auf, es klang ein bißchen bitter. „Und wissen Sie, was sie mir hier am meisten übelgenommen haben? Daß ich mit meinem Fortgehen unser Streichquartett gesprengt habe. Wir hatten nämlich schon einen Europapreis.“
„Hätte Ihr Mann nicht mitgehen können?“
„Von den Arbeitsbedingungen her wahrscheinlich“, antwortete die Physikerin, „Gagarin ist ja eine richtige Stadt, in der alle Dienste und Handwerke gebraucht werden. Doch er konnte hier nicht weg. Er hatte seine Wurzeln hier. Merkwürdig, seiner Kunst merkt man das auf den ersten Blick gar nicht an. Haben Sie schon die Schmuckfenster hier im Vorwerk gesehen?“
„Am besten wird sein, Sie zeigen sie mir!“ sagte Wenzel. „Aber vorher erzählen Sie mir doch etwas von Otto. Wenn es Ihnen nicht zu schwer fällt.“
„Nein, nein“, erwiderte Sibylle, „ich bin nur kein Psychologe…“
„Das macht nichts“, sagte Wenzel ermunternd, „erzählen Sie ein paar Geschichten. Begebenheiten. Familienanekdoten.“
Wenzel erfuhr nun doch eine Menge von solchen Einzelheiten, die das Bild eines Menschen wenigstens umrißhaft entstehen lassen. Die Physikerin fand sich, nach anfänglichem Stocken, ins Erzählen, und Wenzel verstand zuzuhören.
Da war die Geschichte, wie Otto Mohr vom Arbeitstisch aufstand und erklärte, er werde jetzt in den Himalaja fahren, dort sei eine ähnliche Züchtung gelungen wie die, mit der er sich gerade beschäftige, und wie es ihr eben noch gelang, ihm eine wetterfeste Jacke aufzunötigen. Zwar hatte sich die Sache mit der Züchtung dann als Mißverständnis herausgestellt, aber er hatte so viel gelernt und erfahren, daß ihn die Zeit und die Mühe nicht dauerten. Eine andere Episode berichtete, daß er einmal drei Wochen lang fast nicht aus der Werkstatt herausgekommen sei und nur das Allernötigste in Dienst und Kunst getan habe, einzig, um eine uralte Tischuhr eigenhändig wieder in Gang zu setzen und sie ihrer Tochter zur Jugendweihe zu schenken – die sie übrigens heute noch habe. Einem Wanderer schließlich, mit dem er ins Gespräch gekommen und der ihm sympathisch gewesen sei, habe er einmal ein Glasfenster mit bestimmten historischen Motiven versprochen, er habe Monate daran gearbeitet. Und als ihn Fachkollegen dann beschworen, das Werk in die Bezirksausstellung zu geben, habe er sich geweigert und sich an die Absprache gehalten, und das, obwohl sich der Fremde nicht einmal, wie das doch üblich sei, mit einer Gegengabe aus seiner Kunst oder seinem Handwerk revanchiert habe.
„Er konnte also einem Impuls mit großer Beharrlichkeit folgen“, stellte Wenzel fest.
„Und ob!“ bestätigte die Physikerin. „Leicht hatte man es nicht mit ihm. Aber schön.“ Ihre Stimme wurde wieder traurig. „Ich hab ihn immer dafür bewundert, daß er trotzdem in allen drei Arbeitsbereichen tüchtig war.“
„Und nun muß ich Sie noch mal fragen: Haben Sie nicht die geringste Vorstellung, wie die Einladung zu deuten wäre? Der Text klingt ja ganz – nun, wie soll ich sagen, auf mich wirkt er heiter, gelassen. Diese Haltung könnte natürlich auch vorgetäuscht sein. Ein rachsüchtiger, von Haß erfüllter Mensch, der den anderen mit einem Selbstmord schocken wollte – jaja, natürlich trauen Sie ihm das nicht zu, aber wissen Sie, wie er sich psychisch inzwischen verändert hat? Sie waren ja nicht hier, soviel ich weiß, und viel Briefverkehr haben Sie wohl auch nicht gepflegt? Sehen Sie, Menschen in normalen Umständen halten all diese Dinge, mit denen ich mich ständig beschäftigen muß, für unmöglich, aber ich sage Ihnen: So etwas ist durchaus möglich. Na gut, wenn ich auch in diesem Fall nicht daran glaube. Das jedoch aus anderen Gründen. Selbstmord oder nicht – lassen wir das mal beiseite. Was könnte sonst der Grund für die Einladung sein? Arbeitsergebnisse, große, gewichtige,
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