Kurs Minosmond
seinem indischen Gast in das Arbeitszimmer der Ratgeberin.
Es war ein Glücksumstand, daß alle vier Englisch sprachen und die Unterhaltung daher in dieser dem Inder geläufigen Sprache geführt werden konnte; ein Zufall war es freilich kaum, denn jeder Mensch sprach ja außer seiner Muttersprache noch die Regionalsprachen, hier also Polnisch und Tschechisch oder Slowakisch, und zwei oder drei große Sprachen der angrenzenden Regionen, hier meist Englisch, Russisch oder Französisch.
Der Inder, der vor einem Jahr ein paar Wochen bei Otto Mohr gelebt hatte, war Glaskünstler wie dieser und befand sich auf einer fünfjährigen Studienreise durch Europa, wo er Kollegen aufsuchte und mit ihnen arbeitete, die ihm durch Ausstellungen oder aus Fachveröffentlichungen aufgefallen waren und bei denen er etwas zu lernen hoffte. Derartige Bildungsreisen waren verbreitet, aber nicht allzusehr, denn sie waren auf andere Weise wieder sehr eintönig; der Reisende hatte selten Gelegenheit, sein Handwerk auszuüben, und fast nie, einen Dienst zu leisten, und mit nur einer Art von Arbeit kann man ja auf die Dauer kein seelisches Gleichgewicht halten. So ging es auch dem Inder: Seines Handwerks wegen war er nur einmal ein paar Tage nach Berlin gefahren, er war nämlich Goldschmied, und dieses Handwerk war auf den Dörfern nicht sehr verbreitet, jedenfalls nicht da, wo seine Gastgeber wohnten; und sein Dienst war so mit dem heimatlichen Dschungel verbunden, daß er hier nichts ausrichten konnte mit seinen Fertigkeiten und Fähigkeiten.
Er stimme, berichtete der Inder, mit den anderen darin überein, daß Otto Mohr ein ausgeglichener, freundlicher Mensch gewesen sei, keineswegs unglücklich, aber geistig beschäftigt mit dem Unglück. Er habe aus künstlerischen Gründen auf mehrfache Art versucht nachzuempfinden, wie ein unglücklicher Mensch sich fühlt, was seine Seele bewegt, in welchem Rhythmus seine Emotionen ablaufen; er habe zum Beispiel versucht, sich in einen Selbstmörder zu versetzen, zuerst praktisch, indem er sich eine Schlinge um den Hals gelegt habe, aber das habe nichts ergeben, danach dann durch wiederholte Autosuggestion, wovor er, der Berichtende, ihn gewarnt habe. Sehr vertraut mit Yogaübungen und – Weisheit, habe er in den Versuchen des Otto Mohr gefährliche Tendenzen erkannt, methodische Aspekte dessen, was sehr alte Yogis unternehmen, wenn sie ihren eigenen Tod herbeiführen wollen. Zwar wüßten auch die Kundigen des Yoga nicht, ob diese Übungen tatsächlich den Tod zur Folge hätten oder ob sie ihn nur begleiteten, aber so weit reiche die Kenntnis wohl, daß man sie als gefährlich bezeichnen müsse.
„Und?“ fragte Wenzel, seine Betroffenheit verbergend, „hat er diese Versuche daraufhin eingestellt?“
Er könne es nur hoffen, erklärte der Inder, denn die Aussprache darüber habe erst wenige Tage vor seiner Weiterreise stattgefunden, ausgelöst durch die Bitte Ottos, er möge ihm: bei der Vertiefung seiner Meditationen behilflich sein.
Ob er wisse, welche künstlerischen Impulse sich Otto Mohr davon versprochen habe, wollte Wenzel wissen.
Er habe den Eindruck gehabt, sagte der Inder, Otto Mohr habe das selbst noch nicht gewußt; nur eins sei wohl jedem Künstler klar, daß wachsende Reife und Gestaltungskraft sich eines Tages an dem Konflikt zwischen Leben und Tod zur messen haben. Diese allgemeine Erwägung sei wahrscheinlich Ottos wichtigstes Motiv gewesen, und die eigene Gefühlswelt habe anscheinend – trotz der Trennung von seiner Frau – nicht dazu ausgereicht.
Ob er aus seiner Kenntnis des Yoga – oder aus anderen Erfahrungen – einen Zusammenhang sehen könne zwischen diesen Übungen vor einem Jahr und dem jetzigen Tod?
Diese Frage verneinte der Inder. Wenzel bedankte sich bei ihm, und indem er sich an den Gastgeber des Inders zugleich wandte, bat er: „Wenn Sie beide nicht sofort zurückreiten müssen, dann würde ich Ihnen nachher gern noch etwas zeigen und Sie zu ein paar Dingen befragen. Wir könnten gleich…“
Aber der Gastgeber erklärte, es sei ihnen schon recht, doch sie müßten jetzt erst einmal ins Dorf reiten, wo sie jemanden begrüßen wollten; dann, in einer Stunde vielleicht…
Man verabredete sich.
„Was halten Sie davon?“ fragte Pauline neugierig, als sie mit Wenzel allein war.
„Es entspricht meinen Erwartungen“, sagte Wenzel, noch tief in Gedanken versunken. Erst an Paulines fragendem Blick merkte er, daß sie mit diesem Satz nichts anfangen konnte.
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