Kurs Minosmond
Er fuhr darum fort: „Ich fürchte, je mehr wir erfahren, um so undurchsichtiger wird der Sachverhalt.“
„Sie müssen entschuldigen, falls ich zuviel fragen sollte, ich will ja etwas lernen. Einmalige Gelegenheit für mich.“
„Das wollen wir doch sehr hoffen, daß sie einmalig bleibt“, erklärte Wenzel mit Nachdruck, so daß eine ganz kleine Zurechtweisung im Ton lag – es hatte ihm nicht gefallen, daß sie den Tod eines anderen als Gelegenheit für sich bezeichnete. Doch wiederum, sagte er sich, hatte sie ja auch recht. „Also fragen Sie!“ fügte er hinzu.
„Warum hat der Inder den Zusammenhang zwischen den damaligen Selbstmordgedanken und dem jetzigen Tod verneint? Er hat ja selbst gesagt, daß er nicht weiß, ob Otto diese Übungen eingestellt hat.“
„Sie haben genau hingehört“, sagte Wenzel, „aber nur auf die Antworten. Meine Frage hatte aber diesen Zusammenhang mit der Yogalehre verbunden.“
„Ja und?“
„Die Gefährlichkeit der Übungen hatte darin bestanden, daß jemand, der diese Versunkenheit nicht beherrscht, sie unwillentlich in schädigende Zustände überleiten kann. Nun war aber die Situation, in der Otto Mohr starb, gewiß nicht mit Meditation und Versunkenheit verbunden. Der Tod hat ihn mitten in einer Handlung getroffen, in einer erfüllenden Aktivität, an der ihm sehr viel gelegen haben muß, denn er hat ihretwegen Unpünktlichkeit im Stall in Kauf genommen. Damit wären wir beim Thema. Haben wir genug Material zusammen, um einen ersten, groben Ablauf der letzten zwei Tage und des heutigen Morgens zu entwerfen?“
„Einen Ablauf kaum“, antwortete Pauline, „ich hatte immer das Gefühl, hier im Vorwerk sieht man jeden Nachbarn jeden Tag mindestens dreimal, aber das stimmt gar nicht. Im Grunde haben wir nur vier zeitlich fixierbare Aussagen. Vorgestern hat er von acht bis zwölf im Stall Dienst getan, und zwar hat er eine längere Versuchsreihe im wesentlichen abgeschlossen, positiv, also mit interessanten Ergebnissen, doch ja, die werden ziemliches Aufsehen erregen, soweit ich mich da noch auskenne. Die Reihe offiziell abzuschließen wäre aber erst heute möglich gewesen, da noch einige Zubringer zu liefern hatten, und das war für den gestrigen Tag geplant. Otto war deshalb gestern nur zu Hause und wurde zweimal gesehen – morgens am offenen Fenster, demselben übrigens wie heute früh, und nachmittags im Garten. Das Vorwerk hat er sicherlich nicht verlassen, das Haus wahrscheinlich nicht.“
„Warum das Vorwerk nicht?“
„Dann hätte er sich ein Pferd oder einen Wagen geholt, und außerdem ist es üblich, bei der Ratgeberin zu fragen, ob jemandem etwas mitzubringen ist, wenn man ins Dorf oder in die Stadt fährt.“
„Und wenn er einfach so spazierengegangen ist?“
„Spazieren gehen nur Städter.“
„So absolut?“
„Leute, die hier wohnen, haben alle etwas mit der Natur zu tun – dienstlich, handwerklich oder künstlerisch, meist auf mehrere Arten. Da wird jeder Spaziergang zum Kontrollgang oder mit anderen nützlichen Zwecken verbunden.“
Wenzel glaubte schon, daß sie recht hatte, aber er bohrte aus Prinzip weiter. „Und zu einem Rendezvous?“
„Er hatte keine.“
„Er wird doch eine Frau gehabt haben, wenigstens hin und wieder.“
„Früher ja“, sagte Pauline. „Bis etwa vor einem Jahr.“ Endlich begriff Wenzel. „Die Frau war…“
„Ich.“
In Wenzels Kopf schossen verschiedene Gedanken und Gefühle kreuz und quer, aber er sagte nur: „Also dann weiter im Ablauf.“
„Das ist schon fast alles. Heute früh, wissen wir, wollte er um acht im Stall sein, war auch entsprechend angezogen, war aber gegen halb neun noch im Hause. Den Kindern hat er fröhlich zugewinkt.“
„Morgens ist es noch ziemlich kalt. Warum hat er an beiden Tagen morgens dasselbe Fenster aufgemacht? Geschlafen hat er oben, gegessen in der Küche, es war also nicht nötig, zu lüften. Sie müssen doch seine Gewohnheiten kennen?“
„Es ist mir nie aufgefallen, daß er erpicht darauf war, Fenster aufzureißen.“
„Dann muß uns jetzt auffallen, daß er es getan hat“, sagte Wenzel, und in ihm klang es wie ein Echo nach: Fenster aufreißen, Fenster aufreißen…, aber er kam nicht darauf, welche Analogie ihn da bewegte, es schien ihm nur, daß die Worte mit irgend etwas in Verbindung standen, was in ihm selbst oder in diesem Fall eine Rolle spielte. Er kam aber auch nicht mehr dazu, die Frage mit Pauline zu diskutieren, denn jetzt trat Frau Mohr
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