Kurs Minosmond
Kontakte, jedenfalls keine Gäste, und auch er selbst war nie länger auswärts gewesen. Allerdings hatte er viel Post erhalten, Briefe sowohl als auch Pakete. Da wäre eventuell noch etwas nachzuforschen.
Drittens aber, und das widerlegte eigentlich die Selbstmordthese: Sowohl im Dienst als auch in der Kunst hatte er große Erfolge in letzter Zeit. Die für heute eingetragene Benutzung des E-Mikroskops sollte eine erfolgreiche Serie von Experimenten abschließen, und in der Kunst war ihm ein Preis von der Europaausstellung zuerkannt worden. Lediglich im Handwerk hatte er sich wohl auf gelegentliche Reparaturen für Bewohner des Vorwerks beschränkt.
Was war zu tun? Wenzel wußte jetzt schon sehr sicher, daß er in diesem Fall keiner leicht errungenen Erkenntnis trauen durfte. Wohl würde sich bald etwas klären, wohl würde er bald an einen Punkt kommen, wo die widersprechenden Fakten sich zu einer Hypothese ordnen ließen. Dieser Hypothese dann sollte er mit allen Kräften zu Leibe rücken, sie so schnell wie möglich widerlegen, denn in diesem Fall lag die Lösung bestimmt in einer Tiefe, in die er jetzt noch keinen Einblick hatte.
Die nächsten Schritte freilich waren einfach: Er mußte den Inder fragen, was der zu sagen hatte, und er mußte dem Kunstkollegen von Otto Mohr den singenden Raumteiler, jenen Glasstab und auch die seltsame Werkzeugtasche zeigen. Schließlich mußte er die Briefe des Toten durchsehen, hoffentlich hatte der zu jenen Leuten gehört, die ihre Post aufheben. Morgen früh würde er nach Berlin fahren, in ein Labor, und feststellen lassen, wie alt die Schrift auf dem Abschiedsbrief war. Wenn sich sein Verdacht bestätigte, nämlich daß die Schrift schon sehr alt war, dann war die Selbstmordthese hinfällig.
„Sie sind gar nicht recht bei der Sache?“ sprach ihn der Hausherr plötzlich an.
„Oh, ich weiß“, sagte Wenzel, „daß es ein Verstoß gegen alle guten Sitten ist, ein Essen wie dieses nicht mit der ungeteilten Aufmerksamkeit aller Sinne zu würdigen. Und ich möchte Ihnen danken und versichern, wenn einmal ein freundlicherer Anlaß uns zusammenführen sollte, werde ich mich solchen Genüssen mit der Achtung und Aufmerksamkeit widmen, die sie verdienen. Für mein gedankliches Abschweifen entschuldige ich mich.“ Er verneigte sich leicht vor dem Gastgeber, der aus Freude errötet war. Dann fuhr er fort: „Entschuldigen möchte ich mich auch für die Ungelegenheiten, die diese Untersuchung mit sich bringt. Ihnen ist sicherlich bekannt, daß zu den wenigen weltweit noch bestehenden Verbindlichkeiten für alle Menschen diejenige gehört, daß ungewöhnliche Todesfälle geklärt werden müssen, im Interesse aller, damit niemand ungewollt und vor der Zeit diese schöne Erde verlassen muß. Was Sie vielleicht nicht wissen, ist die Tatsache, daß die meisten neuen Krankheitserreger, aber auch neuartige psychische Konfliktsituationen dank dieser Verbindlichkeit rechtzeitig entdeckt wurden. Auch in diesem Fall habe ich das Gefühl, wir werden auf etwas Unbekanntes stoßen. Wahrscheinlich nicht gleich, sondern erst nach einiger Arbeit, in die Sie ebenfalls immer wieder einbezogen sein werden. Im Augenblick allerdings habe ich nur eine Frage, die ich an alle richten möchte, das heißt an alle, die in den letzten Wochen und Tagen Kontakt mit Otto Mohr hatten, und das ist eine, nun, sehr unbestimmte Frage, eine Frage ans Gefühl. Ich stelle sie auch nur, weil ich der Meinung bin, die Sensibilität ist heute bei allen Menschen, selbst den robustesten, so weit ausgeprägt, daß niemand seine grundsätzliche emotionale Befindlichkeit vor seinen Freunden und Nachbarn verbergen kann. Selbst wenn sich jemand bemüht, nicht davon zu sprechen und sich nichts anmerken zu lassen – es bleibt nicht verborgen. Meine Frage also lautet: War Otto Mohr sehr unglücklich?“
„Nein“, sagte die Ratgeberin und blickte sich um. „Oder ist jemand anderer Meinung? Allerdings hatte ich manchmal das Gefühl, daß er uns etwas verbarg, aber sozusagen etwas Gutes, Freundliches, es war so eine Art verstecktes Schmunzeln in ihm, eine Vorfreude, ich weiß nur nicht, worauf.“
Der Inder, dem von seinem Kunstfreund ins Englische übersetzt worden war, was erst Wenzel und dann die Ratgeberin gesprochen hatte, sagte leise etwas. Aber da hob der Gastgeber die Tafel auf, bedankte sich und lud alle Anwesenden für ein Jahr später zu einer neuerlichen Mahlzeit ein.
Wenzel begab sich mit Pauline, dem Glaser und
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