Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kurs Minosmond

Kurs Minosmond

Titel: Kurs Minosmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
Vom Netzwerk:
vielen herumstehenden Selbstfahrtaxis zu nehmen, es war nur fünf Minuten Weg. Pauline sah sich neugierig um, sie war jahrelang nicht mehr in der Stadt gewesen, aber ihre Neugier erlosch bald – rein äußerlich gab es wenig Neues, auch darin drückte sich der Charakter der Epoche aus: Stabilität.
    Das Institut war in einem etwa zwanzigstöckigen Gebäude untergebracht, Pauline zählte die Stockwerke nicht, sie schätzte bloß. Nach ihrer Kenntnis mußte das früher einmal ein Wohnhaus gewesen sein; früher, das hieß also, vor der vollständigen Automatisierung der Industrie und dem darauffolgenden Zurückfluten der Bevölkerung aufs Land, das wiederum Raum schaffte für die Handwerke und Künste aller Einwohner. Vordem hatten ja nur wenige Handwerk und Kunst betrieben, eigentlich unvorstellbar, wie die Leute damals lebten, eine einzige Arbeit, und die oft fürs Leben und den ganzen Tag lang. Es soll auch manche gegeben haben, die mitunter keine Lust hatten zu arbeiten – gut, Pauline konnte das durchdenken und sich manches erklären und rational ableiten, aber nachempfinden konnte sie es nicht.
    Es ging alles sehr schnell. Wenzel gab den Brief ab in einem der Räume, sie wurden in zwei Stunden wiederbestellt, kehrten zum Aufzug zurück, und dann standen sie wieder unter den Bäumen der Allee, die uralt waren im Vergleich zu den Menschen, über hundert Jahre, aber immer noch jünger als die Häuser. Die Straße war um diese Zeit nicht sehr belebt, ein paar Taxis summten vorbei, ein kleiner LKW, der sicherlich irgendwelchen Handwerkern oder Künstlern Material brachte, und auf dem sandigen Mittelstreifen trabten drei Reiter.
    „Gehen wir spazieren“, schlug Wenzel vor, „kommen Sie, ich zeig Ihnen was!“ Er bog um ein Haus und führte sie auf den riesigen Hof, der Sportanlagen und Spielplätze enthielt, Rasen und Büsche sah sie und – fast hätte Pauline vor Bewunderung aufgeschrien – an denjenigen Hauswänden entlang, die keine Balkons trugen, eine Herde grauer Elefanten, mehrere Stockwerke hoch gemalt oder geklebt oder sonst irgendwie auf die Hauswände gebracht, einer hinter dem andern, verspielt, jeder den Vordermann mit dem Rüssel am Schwanz haltend.
    „Wenn die Kunst für die meisten Menschen zur wichtigsten Arbeit wird“, dozierte Wenzel, „dann wird alles zum Kunstgegenstand – Häuser, Straßen, Fahrzeuge…“
    „Sie kennen sich hier wohl aus?“ fragte Pauline nach einer Weile. „Ich denke, Sie leisten ihren Dienst in Prag?“
    „Ich habe hier eine Kunstfreundin wohnen, dort im fünften Elefanten“, erklärte Wenzel.
    Dann aber hörten sie Hammerschläge und laute, empörte Rufe, mehrere Leute liefen auf eine Stelle zu, die für Wenzel und Pauline verdeckt war. Beide blickten sich an und setzten sich gleichzeitig in Trab.
    Als sie um die Ecke einer kleinen Schwimmhalle bogen, sahen sie den Grund der Unruhe: Inmitten einer laut protestierenden Menschengruppe schwang ein Mann einen großen Hammer und zerschlug eine Plastik, die dort aufgestellt war.
    Einer, ein kräftiger Mann, wollte den Wütenden hindern, wurde mit dem Hammer bedroht und wich zurück. Rufe wurden laut: „Ist denn kein Ordner da! – Immer wenn man sie braucht…“
    „Ich bin Ordner!“ sagte Pauline laut und so ruhig, wie es nach dem kurzen Lauf ging. „Machen Sie bitte Platz, und Sie – stellen Sie die Zerstörung ein!“ Und zu Wenzel, der ihr helfen wollte: „Bleiben Sie zurück!“
    Sie legte dem Hämmernden die Hand auf die Schulter, der fuhr herum, hob den Hammer, es war nicht zu sehen, ob er die Absicht hatte zuzuschlagen, jedenfalls kam er nicht mehr dazu – eine schnelle Bewegung Paulines, der Hammer flog ein paar Meter weit, und der Mann lag am Boden.
    Wenzel hatte gewiß nicht zum erstenmal eine solche Kampfsportvorführung gesehen, wenn es auch sonst eben Sport gewesen war. Doch was ihn hier staunen ließ, war zunächst seine eigene Reaktion wie auch die der Umstehenden. Gewöhnlich weckt die Anwendung körperlicher Gewalt, wenn sie wirklich einmal unumgänglich wird, Abscheu oder mindestens Verlegenheit. Er aber hatte hier nichts davon gespürt, und auch die meisten Umstehenden nicht, einige klatschten sogar Beifall.
    Es war verblüffend – die sonst eher staksige Pauline hatte in diesen Sekunden Bewegungen von höchster Eleganz gezeigt, so als sei sie eigentlich erst in dieser heftigen Aktion und auch nur für Sekunden ganz sie selber. Einen Nachglanz davon glaubte er noch jetzt zu spüren, da sie

Weitere Kostenlose Bücher