Kurs Minosmond
das Weitere organisierte: einen Arzt bestellen ließ, den Kranken – denn als solchen mußte man ihn wohl betrachten – versorgte, Personalien der Zeugen aufnahm. Die freundliche Trägheit, die sonst bis in die Bewegungen hinein ihre Erscheinung bestimmte, kehrte erst nach und nach zurück. Wenzel kam es so vor, als habe sie selbst sich noch nicht entdeckt – ganz zu schweigen davon, daß andere sie entdeckt hätten. Er nahm sich vor, diesen Fall Mohr mit ihr gemeinsam zu Ende zu bringen, natürlich, falls sie das wollte, und dabei mehr als bisher auf sie zu achten.
Übrigens stellte sich heraus, daß der Hammerwütige Urheber der Plastik war, und einige der Umstehenden glaubten nun, er habe daher auch das Recht, sie zu zertrümmern, wenn sie ihm nicht mehr gefalle, aber Pauline war anderer Meinung: Was man anderen geschenkt habe, dürfe man nicht wieder wegnehmen, und ein Kunstwerk sei der Menschheit geschenkt, und außerdem und schließlich habe diese Frage der Schlichter zu entscheiden, den sie auf jeden Fall anrufen werde, dazu sei sie als Ordner verpflichtet, da sie körperliche Gewalt angewandt habe.
Anderthalb Stunden ihrer Wartezeit waren vergangen, als alles erledigt war: der Kranke, geistesabwesend die ganze Zeit über, in ärztlicher Versorgung, der örtliche Ratgeber verständigt, der Vorfall beim Schlichter zu Protokoll gegeben. Sie gingen schweigend noch ein wenig unter den Bäume spazieren.
„Daß so etwas geschehen kann!“ sagte Pauline schließlich.
„Das dritte Grundprinzip der Stabilisierung“, erinnerte Wenzel.
„Tatsächlich? Sie dozieren doch so gern, erklären Sie’s mir!“ Wenzel war überrascht – ja, er dozierte wirklich gern, wenn man die Darlegung allgemeiner Zusammenhänge als Dozieren bezeichnen wollte. Aber soweit er sich erinnerte, hatte er das gegenüber dieser jungen Frau erst einmal getan, doch sie mußte gleich gemerkt haben, daß es zu seiner Art gehörte. Er sagte sich immer, daß kein Mensch mit einem fertigen Weltbild geboren werde und daß eine solche philosophische Herausforderung im Gespräch nur nützlich sein könne.
„Hören Sie etwa gern dozieren?“ fragte er.
„Manchmal. Von manchem. Ja.“
„Das dritte ist das Prinzip der durchbrochenen Regel. Für den Umgang mit Sachen und für sachliche Beziehungen in der Gesellschaft gelten Regeln. Diese Regeln können verletzt werden, wenn dabei kein Mensch zu Schaden kommt oder gefährdet wird. Auf den meisten Lebensgebieten gilt: Bei Regelverletzungen zwischen fünf und zehn Prozent ist die Gesellschaft gesund. Für diesen Prozentsatz ist die Gesellschaft materiell gepuffert. Unterhalb oder oberhalb dieser Spanne ist etwas nicht in Ordnung – entweder die Regel oder die Gesellschaft. Denn eine nicht durchbrochene Regel ist eine Zwangsjacke, eine zuviel durchbrochene Regel hebt sich selbst auf. Die Regel zu durchbrechen ist menschlich und natürlich. Beispiel – die Verwaltungseinteilung: für hundert Menschen im Ort einen Ratgeber und einen Ordner, für das Hundertfache im Kreis wieder Ratgeber, Ordner und Schlichter, also für zehntausend Menschen, das gleiche wieder im Bezirk für das Hundertfache, also für eine Million – und so weiter. Aber nie stimmt die Zahl genau, weil es menschlich und natürlich ist, die gewachsenen territorialen und sprachlich-kulturellen Strukturen zu berücksichtigen. Hier können die Abweichungen sogar viel höher als zehn Prozent sein. Alles Binsenweisheiten, wie? Ich denke trotzdem viel darüber nach.“
Sie waren wieder am Institutshaus angelangt. Nach wenigen Minuten standen sie dem Chemiker gegenüber. Jetzt fühlte Wenzel die bisher beiseite gedrängte Spannung wachsen. Alt oder neu, die Schrift? Selbstmord oder nicht?
„Ich weiß ja nicht, was Sie erwartet haben“, sagte der Chemiker, „aber keine dieser Schriften auf dem Blatt ist älter als vierzehn Tage.“
Zwei Tage Ruhe und Training unter Anleitung der Ärzte von Gagarin waren notwendig, ehe sich die Besatzung des Zollstocks wieder an die Arbeit machen konnte. Eine fast übermenschliche Disziplin hatten sich die Physiker abverlangt, indem sie jeden Gedanken beiseite schoben, der irgendwie mit dem Experiment und seinem Ausgang zusammenhing. Nur Ruben hatte es leichter, er war beschäftigt damit, die Kollektoren von Hand abzuschalten und das Faß, die Anlage also, aufzutanken und dann, ebenfalls handgesteuert, das Taumeln abzufangen und sie zu justieren.
Dabei erledigte er etwas anderes gleich mit: Der
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