Kurs Minosmond
Rakete!
Als erstes warf er mit kräftigem Schwung die unnütze Rakete fort, schräg nach hinten vom Schiff weg, damit er ein wenig gebremst und ein wenig näher ans Schiff getragen wurde. Danach nahm er alles Werkzeug aus den Taschen und ließ es folgen. Ungefähr in der Mitte des Schiffs sah er den Effekt, er war langsamer geworden und trieb näher an das Schiff heran, aber er stellte auch fest, daß alles das nicht reichen würde. Zehn Meter lange Beine müßte er haben! Und warum nicht? Er zog, so schnell er konnte, die Stiefel aus und band sie an die Leine. Ein kleiner Schubs – die Stiefel schwebten auf das Schiff zu. Setzten auf. Saßen fest. Jetzt straffte sich die Leine. Ruben gab nach, damit der Ruck nicht die Stiefel löste. Jetzt, jetzt konnte er es wagen – die Leine ruckte, die Stiefel hielten. Langsam schwenkte die Leine mit Ruben am Ende auf das Schiff zu. Er setzte am Heck auf.
Wenzel hatte Pauline mit nach Berlin genommen, sie hatte ihn darum gebeten, er nahm an, das Institut würde sie interessieren, mit dem er vorher Zeitpunkt und Dauer der Untersuchung abgesprochen hatte.
Unterwegs hatte er gegrübelt. Eigentlich sprach alles gegen einen Selbstmord – kein Motiv, keine Gelegenheit, keine Spuren. Alles außer einem: daß die Todesursache nicht bekannt war. Irrsinnig wäre es, anzunehmen, der Mann habe das getan, um sich an seiner Frau oder sonstwem zu rächen. Und doch – hatte er nicht vergleichbare Fälle gehabt? Die Wege des Menschen sind mitunter unerforschlich. Hätte Otto Mohr seine Absichten und seine Stimmung so verbergen können?
Gestern hatte Wenzel das verneint, den anderen gegenüber – heute zweifelte er diese Verneinung an. Woher kam ihm dieses Mißtrauen? Er hatte in seinem Dienst mehr Verirrungen des Gefühls erlebt, als sie einem anderen Bürger dieser menschenfreundlichen Zeit in seinem ganzen Leben begegnen mochten, und darunter Begebenheiten, die jeder andere vergangenen Jahrhunderten zugeordnet hätte.
Wenzel mußte an die Feindschaft zweier Maler denken, die vor Jahren die ganze Einwohnerschaft eines Städtchens über Monate hinweg in Atem gehalten hatte – eher ein komischer als ein tragischer Fall. Sie hatten einander die raffiniertesten Streiche gespielt, die freilich nie jemanden schädigten, aber doch beunruhigend wirkten durch die scheinbare Unerklärbarkeit der Vorgänge. Erst ein Verfahren vor dem Schlichter hatte die Rivalität der beiden, die zu dem Zeitpunkt wohl auch schon ihren Höhepunkt überschritten hatte, aufgehoben und in Partnerschaft verwandelt. Sie arbeiteten gelegentlich sogar zusammen, spielten sich zwar immer noch Streiche, aber nur mehr mit spitzer Zunge, und sie nahmen sie einander nicht mehr übel. Vorher jedoch hatten sie sozusagen gewaltige Leistungen an Verstellungskunst und Verschleierungstaktik vollbracht, warum also sollte nicht auch Otto Mohr…?
Dann fiel ihm der Fall des jungen Pianisten in Mecklenburg ein, der zwei Mädchen, die sich in ihn verliebt hatten, so lange gegeneinander aufhetzte, bis eine von ihnen Selbstmord beging. Auch hier hatte es Verdecktes gegeben; nicht nur, daß die krankhafte Bosheit, mit der er seinen psychologischen Krieg betrieb, bis zu dem traurigen Ergebnis unbemerkt blieb, der Anfangspunkt dieser Entwicklung war sogar dem Kranken selbst unbekannt oder besser unbewußt: eine Zurückweisung seiner Liebe mehrere Jahre davor.
In früheren Zeiten waren solche Entwicklungen oder Entgleisungen häufig, heutzutage sorgte die Sensibilität der Umwelt dafür, daß sie nicht ausuferten. Aber einzelne Fälle, in denen diese Sensibilität versagte oder nicht ausreichte, gab es eben immer noch. Und hätte nicht auch Otto Mohr etwaige Vergeltungsgelüste so tief verstecken können, daß niemand sie bemerkte, zeitweise nicht einmal er selbst? Immerhin hatte er ja allein gelebt seit der Trennung von seiner Frau – bis auf das Verhältnis zu Pauline, die jetzt neben Wenzel saß. Aber diese Beziehung war ja wohl auch gescheitert. Daran? Man müßte sie fragen. Das war freilich sehr intim, es wäre vielleicht besser, sie durch den Gang der Untersuchung an den Punkt zu bringen, wo sie von selbst darüber sprach. Und außerdem würde es kaum ausschlaggebend sein – erst mal sehen, was bei der Analyse der Schrift in dem merkwürdigen Abschiedsbriefentwurf herauskam.
Wenzel landete auf einem Hubschrauberplatz am Rande Marzahns, im Nordosten Berlins also, in der Nähe des Instituts. Sie brauchten nicht einmal eins der
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