Kurs Minosmond
dann schließlich geschlachtet werden – eine widersprüchliche Beziehung zwischen Zuwendung zum lebenden Tier und seiner Verwandlung in einen Gebrauchsgegenstand. Am Vorabend war ihm das klargeworden, als bei Paulines Eltern geschlachtet wurde. Er hatte den Vorgang aufmerksam verfolgt, aus Prinzip, weil er sich nie eine Gelegenheit entgehen ließ, etwas zu beobachten, was er noch nicht kannte oder jahrzehntelang nicht mehr erlebt hatte; das zahlte sich immer aus, in der Kunst wie auch im Dienst. Es hatte ihn dann Mühe gekostet, von der dampfenden Wurstsuppe zu trinken, um die Gastfreundschaft nicht zu verletzen, und wenn ihn heute die Ratgeberin gefragt hätte, ob er sich vor Tierfleisch ekle, so hätte er mindestens nicht so spontan verneint wie vor ein paar Tagen.
Im Bewußtsein, daß seine sonstige Ernährungsweise den Tieren nicht weh tat und nicht ihren Tod forderte, da seine Schnitzel in den Fleischfabriken aus verklonten Zellen gezüchtet wurden, gelang es ihm, sich zu überwinden und die Suppe zu trinken. Niemand hatte es bemerkt außer Pauline, aber in deren Augen hatte es ihm offenbar nicht geschadet; denn heute vormittag, als eine Pause eintrat in ihren Arbeiten, hatte sie ihn zu einem Ausritt herausgefordert, den Kopf auszulüften, wie sie sagte. Ihrem übermütigen Lächeln hätte er eigentlich schon entnehmen müssen, was dann folgen würde, wenn er nicht eben wirklich dessen bedürftig gewesen wäre, was sie als Grund vorgab.
Auf der Lichtung angekommen, sprang sie vom Pferd, er tat das gleiche, sie trat vor ihn hin, legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn, fragte: „Magst du mich?“ Er hätte lügen müssen, wenn er hätte nein sagen wollen, und so breitete sie eine Decke aus und begann sich auszuziehen.
Jetzt lag sie in seinem Arm und schlief, und er starrte in den Himmel. Je mehr Zeit verrann, je größer der Abstand von diesem Erlebnis wurde, um so seltsamer kam es ihm vor. Sie hatten jeder dem andern gegeben, was Mann und Frau voneinander erwarten durften, und trotzdem wurde das Gefühl immer stärker, daß irgend etwas gefehlt hatte, und nicht nur ihm. Seit der Trennung von seiner ersten Frau stellte er sich bei jeder erotischen Begegnung die Frage, ob er mit dieser Frau die zweite Hälfte des Lebens verbringen möchte, und in diesem Fall war die Antwort wie leider schon so oft: nein. Er wußte, er würde ihr nicht genug geben können, vielleicht ein, zwei Jahre lang, aber nicht für immer. Und vielleicht nicht mal so lange. Er stellte sich Pauline vor, wie sie ausgesehen hatte, als sie den Kunstzerstörer aufgehalten hatte. Diese Eleganz der Bewegung, dieses plötzliche Hervortreten der ganzen Persönlichkeit aus den Alltagskleidern der Trägheit und Gewohnheit – das hatte er mit all seinen Liebkosungen nicht erreicht.
Und sie, war sie nicht auch eine, die sich jedesmal eine so grundsätzliche Frage stellte wie er? Die suchte, ohne bisher zu finden? Sonst wäre sie wohl schon verheiratet, die Eltern hätten ihre Enkel… War sie nicht vielleicht eingeschlafen, um über die nicht erfüllte Hoffnung auf den einen Mann, den sie erwartete, hinwegzuschlummern?
Nichts war klarer geworden. Denn so aktiv sie auch mit ihm umgegangen war, in ihrem Suchen war eine große Passivität. Sie ging nicht dahin, wo viele Menschen waren, also in eine Stadt oder in einen Dienst, der sie oft aus dem Vorwerk herausführte, sie schuf sich keine Gelegenheit, sondern wartete, daß sie von selbst entstanden. Ja, diese Passivität war es, die sich in der Trägheit ihrer Bewegungen ausdrückte, die wie ein abgenutzter Mantel ihre wirkliche Schönheit verbarg. Wenn er diesen Widerspruch auch nicht ganz verstand, so begriff er doch, daß er wenigstens eins würde tun können und müssen: ihr diese Gelegenheiten zu schaffen, wenn nämlich dieser Fall, wie er schon ahnte, ihn noch weit über Vorwerk und Dorf und Kreis und Bezirk hinausführen würde. Nun also – ein wenig war doch klarer geworden.
Nur nicht im Fall Otto Mohr. Je mehr er über die Persönlichkeit des Toten zutage förderte, je tiefer er in sie eindrang, um so verschwommener wurden alle Zusammenhänge.
Hatte Otto Mohr sich rächen wollen an seiner Frau? Nur zwei Dinge sprachen dafür: daß er nur sie eingeladen hatte und daß er einen Abschiedsbrief entworfen hatte – allerdings nur entworfen, und damit begann schon die stattliche Reihe der Argumente, die dagegen sprachen. Die Beobachtungen und Beurteilungen aller seiner Freunde und
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