Kurs Minosmond
leider mager, was allerdings nicht am Autor, sondern an der Sache lag. Der Verfasser mußte allzuoft die Beweise durch weitreichende Extrapolation oder sogar durch Phantasie ersetzen. Deshalb wohl war der Artikel in Dialogform geschrieben. Ruben fühlte sich von den parallelen Gedanken dieses Fremden mächtig angezogen. Er las den Artikel zum zweitenmal und gründlicher:
„Sind wir auf der Venus Forscher oder Siedler? Die Praxis hat diese Frage beantwortet, noch bevor wir sie uns selbst in dieser Deutlichkeit stellten, und zwar mehrfach beantwortet. Erstens dadurch, daß von einhundertdreiundachtzig Menschen, die vor mehr als drei Jahren in die Atmosphäre der Venus eintauchten, nur sieben die Rückreise angetreten haben, nachdem ihre vorgesehene Zeit herum war, darunter zwei aus gesundheitlichen Gründen. Zweitens dadurch, daß die Mehrheit von uns heute nicht mehr oder nicht mehr hauptsächlich mit der Erforschung der Venus beschäftigt ist, sondern mit der Aufrechterhaltung und Reproduktion unserer Lebensbedingungen, und man kann derzeit schon sagen, daß wir allmählich zur erweiterten Reproduktion übergehen. Es ist daher nur folgerichtig, wenn wir nicht mehr von Stationen, sondern von Siedlungen sprechen.
Nun werden Sie fragen: Wie kann man denn von einer Besiedlung sprechen, wenn diese Stationen oder, wie wir sagen, Siedlungen gar nicht selbständig existieren können, sondern ständigen Nachschub von der Erde brauchen?
Gewiß können wir nicht unabhängig von der Erde existieren – so wenig, wie ein Kind unabhängig von den Eltern und sogar von der ganzen Menschheit existieren kann. Die achtzehn Jahre, die das Kind braucht, um erwachsen zu werden, machen etwa zwölf bis dreizehn Prozent seines Lebens aus, während dieser Zeit muß es von der Menschheit versorgt werden, ohne selbst einen Beitrag zu liefern. Wenn man nun eine neu entstehende Zivilisation – wie unsere – mit der gleichen Elle mäße, was wären da hundert oder fünfhundert oder tausend Jahre bis zur vollständigen Lebensfähigkeit?
Gibt es denn überhaupt eine Möglichkeit dazu, fragen Sie angesichts der enormen Lebensfeindlichkeit der Venus, von der in Ihren Schulbüchern und sonstigen Informationsquellen immer die Rede war.
Ihre Schulbücher haben Sie richtig unterrichtet: Auf dem Boden der Venus herrschen in jeder Beziehung höllische Verhältnisse. Aber wer sagt denn, daß eine Zivilisation unbedingt auf dem Boden des Planeten leben muß? Noch dazu, wenn der Planet eine so stabile, so zuverlässige Atmosphäre besitzt wie unserer? Wir leben in fünfundfünfzig Kilometer Höhe bei einer Außentemperatur von zwanzig Grad und einem Luftdruck, der etwas niedriger ist als auf der Erde. Das sind, wie Sie zugeben müssen, sehr freundliche Verhältnisse, auch wenn die Luft fast ausschließlich aus Kohlendioxid besteht. Aber wozu gibt es schließlich Pflanzen und die Photosynthese, wenn noch dazu den ganzen Tag eine große Sonne scheint? Hinsichtlich Atemluft und Energie haben wir nicht die geringsten Sorgen.
Jetzt höre ich Sie fragen: Aber das Wasser? Es gibt doch kein Wasser?
Ich danke Ihnen, daß Sie so aufmerksam gefolgt sind. Aber in diesem Punkt sind Sie unvollständig unterrichtet. Für uns gibt es genug Wasser. Die obere Wolkenschicht, die wir normalerweise über uns haben, besteht hauptsächlich aus Eiskristallen. Zweimal bei jeder Umrundung des Planeten, die für uns im ganzen immer etwa einen Erdmonat dauert, stoßen wir hinauf über die Wolken, in die Zone des ständigen Sturms, um schnell durch die Nachtseite bzw. die subsolare Zone zu kommen. Bei diesen Gelegenheiten nehmen wir reichlich Wasser auf. Allerdings müssen wir sparsam damit umgehen: Recycling ist in puncto Wasser absolute Pflicht. Aber das Wasser würde auch reichen, wenn wir unsere Zukunftsvorstellungen und -träume verwirklichen könnten.
Ach, fragen Sie, Zukunftspläne gibt es auch?
Gewiß. Können Sie ohne Pläne und Träume leben? Wir haben aber mehr als das. Wir haben eine Konzeption. Um die Atmosphäre des Planeten zu verändern – was fehlt uns denn? Geeignete Pflanzen lassen sich züchten, die Kohlendioxid abbauen zu Grünmasse und Sauerstoff. Alle notwendige Technologie liegt im Grunde vor, nur im einzelnen noch nicht. Freilich, drei Stationen oder Siedlungen können nichts ausrichten. Jeden Kilometer der Tagzone eine Siedlung, das wären etwa dreißigtausend, mit knapp zwei Millionen Menschen – das würde für den Anfang genügen, um meßbare
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