Kurs Minosmond
sie eine Stunde vorher getan hatte: Sie hatte eins ihrer Lieblingsstücke gespielt, Passagen aus dem D-Dur-Violinkonzert von Beethoven, und sie hatte sich dabei dem Vorhang genähert.
Sibylle sah ihn jetzt fragend an – er nickte und zog sich, fast unbewußt, einfach um nicht zu stören, mit seinen Geräten ein Stück zurück. Die Physikerin begann zu spielen und jetzt reagierten die Geräte, in dem alten Satz von Resonatoren glimmte ein Stäbchen am oberen Ende auf, in dem neuen, der mit der Post gekommen war, gleich drei, eins stark und zwei schwach.
Der Raumteiler sandte tatsächlich Resonanzen aus. Das Glas sang.
Übrigens blieb es nicht dabei, auf dem neuen Satz entfaltete sich ein regelrechtes Lichterspiel, andere Stäbchen glimmten auf, die vorigen erloschen, auch die Intensität änderte sich während des Spiels, nur ein Stäbchen, das dritte, schien immer dunkel zu bleiben. An einer Stelle des Spiels leuchtete plötzlich fast die ganze Skala der Stäbchen auf, und hier nahm Wenzel den Ton durch die Watte in den Ohren wahr. Das mußte die Stelle sein, an der Sibylle Mohr den Schrei gehört hatte. Eine so starke Reaktion wiederholte sich bis zum Schluß nicht.
Sibylle setzte die Geige ab und sah sich um. Wenzel nickte. Es war so gekommen, wie sie vermutet hatten. Nun begannen die abgesprochenen Experimente.
Die Physikerin spielte zuerst das Stück noch mal, aber nicht als Musik, sondern nur die Tonfolge, mit Pause nach jeder Note. Dann blickte sie sich wieder um – Wenzel schüttelte den Kopf: nichts, keine Reaktion. Sie spielte ein zweites Mal das gleiche, aber mit kürzeren Pausen – ebenfalls nichts. Ein drittes, viertes Mal, mit immer kürzer werdenden Pausen – endlich konnte Wenzel nicken, jetzt begannen die Geräte anzuzeigen. Nun behielt sie dieses Tempo bei, verkürzte aber die Töne, so daß die Pausen wieder länger wurden – keine Reaktion. Erst als die Pausen wieder die vorhin erreichte Kürze hatten, begannen die Geräte erneut anzuzeigen, zuerst der neue Satz, der ganz offenbar empfindlicher war.
Sibylle Mohr legte die Geige beiseite und nahm die Watte aus den Ohren. Wenzel tat es ihr nach.
„Er reagiert also nicht auf einen einzelnen Ton, er ist kein einfacher Resonanzboden“, sagte sie. „Wie zeigen die Geräte an?“
Wenzel erläuterte es ihr.
„Ich werde jetzt noch einmal ohne Watte spielen“, sagte sie entschlossen, „wenn es zu schlimm werden sollte, höre ich auf.“ Sie nahm die Geige wieder auf und spielte den Solopart noch einmal.
Wenzel hatte auch die Watte aus den Ohren gezogen. Eigentlich wollte er wieder die Geräte beobachten, aber das Spiel nahm ihn völlig gefangen, so daß er nur nebenbei registrierte, daß da wieder etwas glimmte. Von der Musik ging eine so starke Faszination aus, daß es fast einem Rausch nahekam, allerdings ohne das Nebulöse, das diesem Wort anhaftet, eher vergleichbar einer großen Kreativitätslust. Erst an der besagten Stelle, an der die Geigerin vorhin ohnmächtig geworden war, bemerkte Wenzel, daß er nicht die Geige allein hörte, sondern ebenfalls Resonanzen des Raumteilers; aber auch jetzt, als sie so stark wurden, empfand er sie nicht als unangenehm. Sibylle schien es ähnlich zu gehen, warum war ihr vorhin schlecht geworden? Sie erörterten die Frage, als sie fertig war, und kamen zu einigen Vermutungen: Das Gehör der Musikerin übt beim Spiel schließlich eine andere psychische Funktion als das des Zuhörers aus, es kontrolliert das Spiel, unverständliche und unerwartete Abweichungen könnten eine Art schöpferischer Verzweiflung hervorrufen. Aber schlüssig war das alles nicht.
Plötzlich hatte Wenzel eine Idee. „Haben Sie noch mehr Lieblingsstücke?“
„Drei, vier.“
„Spielen Sie sie. Oder Ausschnitte daraus.“ Die Physikerin griff zur Geige, spielte, bei zwei von drei Stücken erlebte Wenzel das gleiche wie eben, bei einem Stück nicht. Der Unterschied war deutlich.
„Er hat wohl den Vorhang auf meine Lieblingsparts präpariert“, sagte Sibylle Mohr. Ihre Stimme vibrierte an einigen Stellen stärker als sonst.
„Ja“, sagte Wenzel. Und nach einer sehr langen Pause fuhr er fort: „Aber er selbst hat doch nicht Geige gespielt?“
Sibylle blickte zuerst verwundert, dann überrascht, schließlich beunruhigt – jetzt hatte sie den Sinn der Frage verstanden.
„Machen wir eine wirkliche Pause“, schlug Wenzel vor, „erzählen Sie mir etwas von Ihrer Arbeit als Wissenschaftler?“ Wenzel erfuhr, daß sie
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