Kurs Minosmond
alle vor Glück gestorben zu sein.“
„Genauer: Glück nach überwundenem Unglück“, sagte Sibylle, „wenn ich nämlich das, was ihr berichtet habt, mit der zweiten Entdeckung vergleiche, die ich inzwischen gemacht habe. Das Tagebuch von Otto.“
Alle spannten sich. „Wo?“ fragte Wenzel.
„Im Sockel des Raumteilers. In einer Kassette. Ich sollte es wohl nicht sofort finden, sondern erst in Sternenstadt oder in Gagarin. Es sind nicht tägliche Aufzeichnungen, sondern oft mit Monatsabständen, und ich habe für euch die wichtigsten zusammengestellt. Einige möchte ich für mich behalten. Sie enthalten aber, bezogen auf unsere Untersuchung, nichts, was nicht auch in den ausgewählten Passagen vorkäme. Ich spiele sie euch jetzt vor. Die erste datiert etwa ein Vierteljahr nach unserer Trennung.“ Sie drückte eine Taste.
Otto Mohrs Stimme erklang, für zwei von ihnen fremd, für die andern beiden sehr vertraut. „Ich beginne langsam zu begreifen, daß ich allein bin. Zur Überprüfung meiner seelischen Zustände werde ich in größeren Abständen etwas über meine Befindlichkeit auf Band sprechen. Das bin ich der Kunst schuldig. Denn wenn ich schon unglücklich bin, dann will ich diesen Zustand wenigstens produktiv machen. Ich bin ja nicht der einzige – es gibt auch in unserer heiteren Zeit genügend Unglückliche, die also Kunsterlebnisse brauchen, welche ihrer Lage angemessen sind. Freilich weiß ich noch nicht, wie das mit Glas zu machen wäre.“
Sibylle schaltete aus und ließ das Band ein Stück vorlaufen. „Was jetzt kommt, war zugleich schlimm und tröstlich für mich. Aber auch wesentlich für Otto. Ein halbes Jahr später.“
Wieder erklang die Stimme. „Es ist nicht, als ob einem eine Hälfte fehle; es ist, als sei man nur noch der Schatten seiner selbst. Ich bin gewiß kein Selbstmörder, aber wenn ich es auch nicht tue und nicht tun werde, so denke ich doch hin und wieder daran. Man liest davon, daß es anderen so geht und ging, aber das sagt gar nichts, wenn man es nicht erlebt. Um so dringlicher stellt sich mir die Aufgabe, mir und anderen mit den Mitteln der Kunst zu helfen, wenn ich auch immer noch nicht weiß, wie. Vielleicht muß ich noch tiefer hinab in das Erlebnis des Unglücks, bis das Gefühl dem näher kommt, was der Verstand mit dem Selbstmordgedanken herbeizitiert: dem Tod. Manchmal denke ich, das sind alles nur Worte, mit denen ich mich selbst bedaure. Was ich wirklich bedaure: Ich habe ihr vorgeworfen, daß sie ehrgeizig ist, um ihr den Abschied, der doch auf jeden Fall kam, leichter zu machen. Es war nicht meine wirkliche Meinung.“
Ohne Kommentar schaltete Sibylle aus und nach einem weiteren Vorlauf wieder ein.
„Es ist jetzt ein Jahr her seit der Trennung, das Gefühl, hinter einer Glaswand zu leben, schwindet langsam. Momentan sind Dienst und Handwerk für mich uninteressant geworden, ich versehe sie selbstverständlich ordentlich, aber mein Inneres, Gedanken wie Gefühle, ist ausschließlich mit der Kunst beschäftigt. Alles, was ich bisher aus Glas geschaffen habe, kommt mir leer und sinnlos vor angesichts der Aufgabe, die mir im zurückliegenden Jahr zugewachsen ist und die ich schon angedeutet habe. Ich hab mir diese Aufgabe nicht ausgesucht, sie ist auf mich zugekommen, aber seit ich sie akzeptiert habe, führt sie mich aus dem Glaskasten heraus, und vieles sonst ganz Normale, Alltägliche ordnet sich ihr fast von selbst zu. Gestern habe ich ein paar Glasteile auf eine Schnur gefädelt, zu einem ganz anderen Zweck, und plötzlich, als ich die Kette klirren hörte, durchfuhr es mich: Da könnte eine Ausdrucksmöglichkeit sein, die sich eignet.“
„Zwei Jahre später“, sagte Sibylle und schaltete.
„Ich habe – wenig genug nach drei Jahren, aber doch schon unendlich viel – die Aufgabe formuliert: ein Glasensemble zu schaffen, das man gern ansieht und das, angeregt von der davorstehenden Person, leise oder vielleicht unhörbare Töne von sich gibt, die eine freudige Aktivität stimulieren. Daß Töne auf das Gefühl wirken können, weiß die Musik seit tausend und aber tausend Jahren, warum sollte es also nicht möglich sein?“
„Ein halbes Jahr danach“, verkündete Sibylle.
„Es geht! Ich weiß, daß es geht! Freilich erst im Ansatz, aber der weitere Weg ist erkennbar. Jetzt habe ich eine Sorge: daß mein Herz, derzeit in guten Händen, die Gefühle der Trennung und des Todes vergessen könnte. Ich unternehme allerhand Dummheiten, um sie
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