Kurs Minosmond
würde, mehr und mehr, über Zeit und Region hinaus, und daß die junge Frau, bisher beschränkt auf das Vorwerk, sich den Atem holen müsse für größere Aufgaben und Reichweiten. Bei welcher Gelegenheit sollte sie Enthusiasmus, Zähigkeit und Übersicht besser üben, als wenn sie eine eigene Idee verwirklichte – eine, die alle ihre Kräfte fordern, sie aber wohl nicht überfordern würde?
So richtete also Pauline das Berliner Büro des Zweiten Gehilfen ein, was überhaupt keine Schwierigkeiten bot, da der hier amtierende Erste Gehilfe Raum und Informationsverbindungen aus seiner Reserve zur Verfügung stellte. Am selben Tag noch hatte sie mit der Gesundheitskommission der Stadt Verbindung aufgenommen, Rahmen und Prinzipien des Langzeitversuchs wurden festgelegt, und abends hatte sie schon mit ein paar maßgeblichen und kundigen Leuten zusammengesessen, um die technischen und organisatorischen Einzelheiten zu überdenken.
Sie hatten sich auf dreitausend Teilnehmer am Versuch geeinigt; dazu mußte man etwa viertausend geeignete Personen finden, denn man mußte damit rechnen, daß nicht jeder einverstanden war, sich ein Jahr lang in Berlin aufzuhalten und dabei täglich einen Gerätesatz mit sich herumzutragen. Diese viertausend mußten etwa fünfzig sein, eine Wende vom Unglück zum Glück erfahren oder vor sich haben, ein Merkmal, dessen Vorhandensein und Echtheit schwer zu prüfen war. Dabei sollten Medizin- und Soziologiestudenten helfen, die das als Aufgabe ihres Studiums bekamen und die von Pauline genaue und treffende Informationen erwarteten. Die ersten zwanzig gingen bereits am nächsten Tag los, abends wurden ihre Erfahrungen mit dem nächsten Trupp debattiert, zwischendurch mußten Fragen der Produktion und Bereitstellung der dreitausend Gerätesätze für die Teilnehmer des Langzeitversuchs geklärt werden, hier und dort waren Absprachen zu treffen.
Pauline arbeitete den ganzen Tag, und alles war ungewöhnlich: daß sie in all der Zeit das gleiche tat und es war doch immer wieder jede Minute etwas anderes. Das hatte sie, an die tägliche Abwechslung zwischen den drei Berufen gewöhnt wie die meisten Menschen, noch nie erlebt. Und sie ermüdete nicht etwa dabei, wie man doch denken sollte – im Gegenteil, das Gefühl, daß der Wirkungsbereich dessen, was sie tat, sich von Stunde zu Stunde ausdehnte, daß sie eine täglich wachsende Zahl von Menschen und Dingen in Bewegung setzte – dieses bisher unbekannte Gefühl berauschte sie sogar ein wenig. Sie bemerkte das erst, als es plötzlich Schwierigkeiten gab, als am dritten Tag nicht mehr alles so leicht und wie von selbst lief. Aber sie bekam schnell heraus, daß sie bestimmte Bereiche für die Studenten ungünstig eingeteilt hatte und daß deshalb der Zustrom von Teilnehmern nachließ, und als sie die Schwierigkeiten überwunden hatte, stellte das angenehme Gefühl sich sogar noch stärker wieder her.
Am fünften Tag abends wurde ihr vor dem Einschlafen plötzlich klar, daß sie sich nun schon über hundert Stunden, eigentlich nur durch knappen Schlaf unterbrochen, mit derselben Sache beschäftigte, ohne Kunst und Handwerk zu betreiben, ohne Sport und Entspannung, und daß es ihr nicht im geringsten lästig wurde. Das widersprach doch allem, was man in der Schule gelernt hatte, und sie dachte an Otto Mohr und Sibylle und daß sie die Physikerin vielleicht zum erstenmal zu begreifen begann, und dann schlief sie ein.
Nach etwa zehn Tagen hatten sich die Handlungen der beteiligten Personen und Gruppen so weit koordiniert, daß die Aktion gleichsam von selbst weiterlief und Pauline nur noch die Ergebnisse entgegennahm. Zweitausend mögliche und bereite Teilnehmer waren gefunden, täglich war ein Zugang von etwa zweihundert zu erwarten.
Plötzlich wurde es langweilig. Zu Hause hätte sie sich an Kostümentwürfe gesetzt, sie versuchte das auch hier, hatte aber nicht die Nerven dafür. Weil es wärmer wurde, die erste Hitzeperiode in diesem Jahr setzte ein, holte sie ein Stück Stoff und nähte sich etwas auf einer Maschine, die in der Boutique stand, aber auch das machte ihr nicht den gewohnten Spaß. Sie begriff, daß sie im Rahmen ihrer Aufgabe etwas gegen die Langeweile unternehmen mußte.
Bei den verschiedenen Absprachen hatte sie schon öfter mit der Stadtbezirkszentrale der Dringlichen Medizinischen Hilfe zu tun gehabt, und sie hatte gleich zu Anfang gebeten, daß sie sofort benachrichtigt würde, wenn irgendwo ein Fall auftreten sollte, der
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