Kurs Minosmond
Frau reichte ihr die Hand und zog sie mit einem kräftigen Ruck zu sich hinauf. „Elke Wichmann!“ stellte sie sich vor.
Pauline erklärte, was sie hergeführt, und auch, daß sie schon erfahren habe, was geschehen sei, und daß sie nun eigentlich keinen Grund mehr habe außer Neugier.
„Ein guter Grund“, meinte die Frau lachend; dann wurde sie ernster. „Was wir hier machen, geschieht so selten, und es gibt so wenig Leute, die überhaupt davon wissen, daß uns Neugier gar nicht unwillkommen ist. Immerhin sichern wir ein paar hundert Jahre Zukunft. Was hier gerade ausgeschlachtet wird, ist die erste Hundertjährige. Die erste automatische Fabrik, die hundert Jahre ohne Korrektur gelaufen ist.“
Pauline fühlte sich daraufhin betrachtet, was sie wohl für ein Gesicht machen würde bei dieser Eröffnung, und sie wußte, daß es sicherlich nicht spontanen Jubel zeigte – sie war auf diesem Gebiet unwissend und hatte keinen Grund, das zu verbergen.
„Da hat die – die Fabrik hundert Jahre das gleiche produziert?“ fragte sie.
„Die Menschheit lebt von der Automatik“, sagte Elke Wichmann mit gespielter Empörung, „aber es kümmert sie nicht, wie die arbeitet! Innerhalb eines vorgegebenen Rahmens – hier Schwermaschinenbau – können Sie, also kann die Wirtschaftskommission alles bestellen, was denkbar ist, und nach den vom Menschen vorgegebenen Parametern organisiert die Zentralsteuerung Konstruktion, Technologie und Produktion der bestellten Maschinen.“
„Schon gut, Sie merken ja, ich habe keine Ahnung“, sagte Pauline. „Und was ist ‚trans‘?“
„Schwer zu erklären“, sagte die Computerspezialistin. „Vielleicht so: Die Maschinen und Aggregate sind nach der geplanten Zeit physisch weitgehend verschlissen; übrigens sind die auch nicht alle hundert Jahre alt, im Lauf der Zeit werden selbstverständlich auch Teile von Anlagen ausgewechselt, teils produziert die Fabrik sie selbst, teils bestellt sie sie bei anderen Fabriken. Aber absolut nicht verschlissen, sondern eigentlich erst richtig fit ist die Zentralsteuerung, der Computer. Ist doch klar – er sammelt hundert Jahre Erfahrungen, steuert die Produktion immer rationeller und effektiver, und dann – wird er abgeschaltet. Da geht etwas verloren. Also muß man irgendwie herausfinden, was daran wertvoll ist und wie man es herausholen, aus der Masse der Strukturen und Speicherinhalte herauspräparieren kann. Dazu bedienen wir uns, ich weiß nicht, wie ich es anders nennen soll, einer Art Musik. Meine Anlage hier im Wagen tastet die Zentralsteuerung ab und übersetzt die Ergebnisse in Töne, und an dem gesamten Tonstrom erkenne ich interessante Strukturen und, wenn ich Glück habe, auch Kreuzungspunkte im Bahnennetz der Steuerung. Dieses Hineinhorchen nennen wir trans, Abkürzung aus Translation des Endzustands.“
„Das kann sicherlich nicht jeder“, sagte Pauline mit leiser Bewunderung.
„Es ist erlernbar“, sagte Elke Wichmann trocken. Doch dann lachte sie auf, unmotiviert, wie es Pauline schien. „Angefangen hab ich an Einjährigen, dann weiter trainiert an Zehn- und Zwanzigjährigen. Aber was mir diese erste Hundertjährige heute geboten hat – ich war eigentlich mehr im Tran als im Trans, daher auch der Irrtum, daß sie die DMH gerufen haben.“
„Im Tran – was ist das nun wieder?“
„Das ist Jargon. Von mir. Ich meine, ich habe geschlafen. Oder so etwas Ähnliches. Die Musik aus dem Translator hat mich in eine Art Hypnose versetzt.“
„Das ist ein gefährlicher Beruf!“ sagte Pauline halb im Scherz, halb in ernstem Respekt.
„Gefährlich kaum, aber ein bißchen abenteuerlich schon. Was meinen Sie, weshalb ich jetzt mit Ihnen schwatze? Ich brauche Abstand, ich kann die Translation nicht knacken, ich hab noch nie etwas so Kompliziertes gehört, ich muß sie vielleicht noch fünf-, sechsmal hören, ehe ich da etwas erkenne. Und dazu muß mir noch ein Mittel einfallen, wie ich diese Hypnose vermeide.“
„Dann haben Sie wohl eine Aufzeichnung von der Musik?“
„Ja, aber sagen wir lieber: Geräuschfolge.“
„Kann ich sie mal hören?“ bat Pauline.
„Sie? Sie hören da nichts heraus. Dazu braucht’s Übung.“
„Nur Neugier. Außerdem können Sie ja dann sehen, ob ich auch hypnotisiert werde.“
Der letztere Grund fiel Pauline gerade noch ein; den wirklichen Grund sagte sie nicht, weil sie nicht in die Lage kommen wollte, die ganze lange und komplizierte Geschichte ihrer Aufgabe erzählen zu
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